Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon
Autoren: Jonathan Barnes
Vom Netzwerk:
zusammen mit einem Stück Kreide immer mitführte.
    Die Fahrt nach Hause verlief in tiefem
Stillschweigen. Erschöpft von den aufreibenden Bemühungen, angesichts der
unbarmherzig vergnügten Geselligkeit des Abends Haltung zu bewahren, sprach
Moon nichts, doch kurz bevor sich die Droschke dem Ende der Fahrt näherte,
griff der Schlafwandler in seinen Ranzen und holte Tafel und Kreide hervor. Mit
krakeligen, kindlich hingemalten Buchstaben schrieb er:
    WAS HAT ER GEWOLT?
    Moon erzählte es ihm.
    Mit seinem schwerfälligen, übergroßen Daumen
wischte der Schlafwandler die Frage von der Tafel und schrieb erneut:
    WAS HAS DU GESAGT?
    Nachdem er die Antwort vernommen hatte,
steckte der Riese Tafel und Kreide zurück in den Ranzen und schrieb bis zum
Morgen nichts mehr.
    Edward Moon war Zauberkünstler von
Beruf und Detektiv aus Leidenschaft. Ihm gehörte ein kleines Theater am Albion
Square an der Grenze zum East End, in dem er außer Sonntag allabendlich
zusammen mit dem schweigsamen, unermüdlichen Schlafwandler als Assistenten
auftrat und seine magischen Fähigkeiten zur Schau stellte. Natürlich waren sie
beide mehr als nur simple Varieté-Zauberer – aber alles zu seiner Zeit.
    Ihre Bühnenschau hatte eine unauffällige, jedoch
stetige Aufwärtsentwicklung genommen. Nach der Premiere in den frühen achtziger
Jahren und anfänglich bescheidenen Besucherzahlen durfte Moon es später, am
Höhepunkt seiner Popularität, als enttäuschenden Abend betrachten, wenn die
Reihen nicht bis auf den letzten Platz gefüllt waren und die Hälfte der
Einlassbegehrenden wegen Platzmangels abgewiesen werden musste. Zu jener Zeit
hatte die Stadt noch nichts zu Gesicht bekommen, was dem »Theater des
Unglaublichen« gleichgekommen wäre. In jeder einzelnen Vorstellung verschmolzen
dort Magie, Melodrama, Exotik und ehrliches, atemberaubendes Spektakel. Doch
das Publikum kam in erster Linie, um eines zu sehen – das geheimnisvolle
Herz der Aufführung: die lautlose, rätselhafte Person des Schlafwandlers.
    Das Theater selbst war etwas über fünfzig Jahre
alt, ein anspruchsloses Gebäude mit dem Flair einer kleineren
Universitätskapelle. Ein farbenprächtiges handgemaltes Schild bedeckte draußen
die halbe Front und verkündete in zwölf Zoll hohen Lettern:
    DAS THEATER DES UNGLAUBLICHEN
zeigt
MISTER EDWARD MOON UND DEN SCHLAFWANDLER
Es erwarten Sie:
STAUNEN! NERVENKITZEL! FASZINATION!
    Zur Zeit unseres Berichts hatte das
Theater bereits aufgehört, groß in Mode zu sein, und die Besucher und ihre
Begeisterung wurden immer spärlicher.
    Der Abend nach Moons Auseinandersetzung mit
Stoddart verlief typisch: geringer Andrang, eine halbherzige Riege Anstehender
draußen vor dem Eingang – kein Vergleich mit den glorreichen Tagen, als
sich um fünf Uhr nachmittags, volle drei Stunden, bevor der Beginn der
Vorstellung angesetzt war, die Schlange von der Theaterkasse weg durch das
Foyer bis auf die Straße und um den halben Platz bis zum Eingang des »Gewürgten
Bengels«, des Wirtshauses gegenüber, erstreckte.
    Das Innere des Theaters fiel in die schmierige,
schäbige Kategorie – ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch die
allgegenwärtigen Gerüche nach Sägemehl, Schnaps und verbrauchtem Gas. Ohne
Wissen unserer Hauptakteure befand ich mich an jenem Abend selbst dort und
hatte in der ersten Reihe Platz genommen; es war bereits die vierte oder fünfte
Gelegenheit, bei der ich mich eingefunden hatte.
    Während das Publikum unter längerem Herumtrödeln
die Sitze aufsuchte, kämpfte sich eine zusammengewürfelte Musikkapelle im
Orchestergraben heldenhaft durch ein Potpourri beliebter Gassenhauer, die mir
mit ihrem abgedroschenen, derben Einerlei beinahe körperliches Unwohlsein
verursachten.
    Es hatte eine Zeit gegeben, da das Publikum des
Theaters sämtliche Gesellschaftsschichten umfasste – von den Familien der
Arbeiterklasse aus der Umgebung bis zu den freien Berufen, von Armenhäuslern
bis zu Ärzten, von Gottesmännern bis zu Gewürzhändlern, ja sogar bei einer
unvergesslichen Gelegenheit einen zweitrangigen Spross der königlichen Familie.
Doch dann, ziemlich plötzlich und ohne offensichtlichen Grund, stellten die
besseren Kreise ihr Erscheinen ein, wodurch nur mehr die Menschen aus der
Umgebung übrigblieben – Müßiggänger, Neugierige, zufällig Vorbeikommende,
die bloß aus dem Regen ins Trockene wollten, sowie eine wunderliche Mischung
aus Leuten, die nur als »Stammkundschaft« bezeichnet werden konnte. Das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher