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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4
Autoren: Clive Barker
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ihr jetzt auferlegte Verantwortung fürchterlich war. Sie, die abgetrennte Hand, war der alleinige Beweis eines Lebens nach dem Körper. Und irgendwie mußte sie diese freudenbringende Tatsache so vielen Sklavengenossen mitteilen, wie sie nur konnte. Sehr bald würden die Tage der Knechtschaft ein für allemal vorüber sein.
    An der Hausecke machte sie halt und witterte die offene Straße. Polizisten kamen und gingen; rote Lichter blitzten auf, blaue Lichter blitzten auf, neugierige Gesichter guckten, aus den Häusern gegenüber und lästerten über die Ruhestörung.
    Sollte die Rebellion dort beginnen, in diesen hell erleuchteten Wohnungen? Nein. Sie waren zu gründlich wachgerüttelt, diese Leute. Es war besser, schlafende Seelen ausfindig zu machen.
    Die Hand huschte längs durch den Vorgarten, wobei sie bei jedem lauten Schritt oder einer Anordnung, die man in ihre Richtung zu rufen schien, nervös zauderte. Deckung nehmend in der ungejäteten Kräuterrabatte, erreichte sie ungesehen die Straße. Beim Herunterklettern auf den Gehsteig blickte sie kurz um sich.
    Charlie, der Tyrann, wurde gerade in den Rettungswagen geschoben. Über seinem Tragbrett schwebte ein Durcheinander medikamenten- und blutgefüllter Flaschen, die ihren Inhalt in seine Adern gossen. Auf seiner Brust lag untätig die Rechte, durch Betäubungsmittel in unnatürlichen Schlaf versetzt. Die Linke sah zu, wie der Körper des Mannes außer Sicht glitt; der Schmerz der Trennung von ihrer lebenslangen Gefährtin überschritt fast die Grenze des Erträglichen. Aber es gab andere, dringliche Prioritäten. Nach einer Weile würde sie zurückkommen und die Rechte auf die Art befreien, wie sie befreit worden war. Und dann würden herrliche Zeiten anbrechen. (Wie das wohl sein wird, wenn die Welt uns gehört?)
    Im Foyer des CVJM in der Monmouth Street gähnte der Nachtwächter und nahm auf seinem Drehstuhl eine bequemere Sitzposition ein. Bequemlichkeit war für Christie freilich etwas durchaus Relatives; seine Hämorrhoiden juckten, egal auf welche Hinterbacke er sein Gewicht verlagerte. Und heut nacht schienen sie empfindlicher zu sein als sonst. Sitzende Beschäftigung, Nachtwächter – jedenfalls beliebte Colonel Christie seine Dienste so zu umschreiben. Eine oberflächliche Kontrollrunde durchs Gebäude gegen Mitternacht, bloß um sicherzugehen, daß alle Türen verschlossen und verriegelt waren, dann hockte er sich gemütlich hin, um die Nacht durchzudösen, und, hol die Welt der Teufel oder sonst wer, er hatte nicht vor, noch mal aufzustehen, außer bei einem Erdbeben.
    Christie war zweiundsechzig, Rassist und stolz darauf. Für die Schwarzen, die sich in den Gängen des CVJM drängten, hatte er nur Verachtung übrig; die meisten von ihnen junge Männer ohne Wohnsitz und Bleibe, miese Typen, die die Kommunalbehörde auf der Schwelle abgeladen hatte wie unerwünschte Babys. Und was für Babys. Er hielt sie für Flegel, jeden einzelnen von ihnen; ewig auf Provokation aus; spuckten auf den sauberen Boden; ein loses Mundwerk mit jeder Silbe. Heute nacht thronte er, wie immer, auf seinen Hämorrhoiden und sinnierte zwischen Nickerchen, wie er sie für ihre Unverschämtheiten leiden lassen könnte, wenn er nur halbwegs die Chance dazu bekäme.
    Das erste, was Christie von seinem unmittelbar bevorstehenden Ableben mitbekam, war eine kalte, feuchte Empfindung in seiner Hand. Er öffnete die Augen und schaute an seinem Arm hinunter. Da war – so unwahrscheinlich es auch schien – eine abgetrennte Hand in seiner Hand. Und noch unwahrscheinlicher: Die beiden Hände ergriffen einander zur Begrüßung, wie alte Freunde. Er stand auf, gab in der Kehle ein zusammenhangloses Geräusch des Abscheus von sich und versuchte, das Ding, das er gegen seinen Willen festhielt, zu entfernen, indem er seinen Arm schüttelte wie ein Mann mit Klebstoff an den Fingern. Fragen durchwirbelten seinen Kopf.
    Hatte er diesen Gegenstand aufgelesen, ohne es zu wissen?
    Und wenn, wo, und, um Gottes willen, von wem stammte er?
    Und noch beklemmender: Wie war es möglich, daß ein so hundertprozentig totes Ding sich an seiner Hand festklammern konnte, als ob es vorhätte, sich nie mehr von ihm zu lösen?
    Er langte nach dem Feuermelder; eine andere Handlungsmöglichkeit fiel ihm in dieser absonderlichen Situation nicht ein. Aber ehe er den Knopf erreichen konnte, verirrte sich seine andere Hand ohne seine Anweisung zur obersten Schublade seines Schreibtischs und öffnete sie. Das
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