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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4
Autoren: Clive Barker
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Pläne, und er war machtlos, sich ihnen zu widersetzen. Nur am Rande nahm er wahr, daß sie jetzt ihre Finger in den dicken Velours des Teppichs gruben und seine schlaffe Körpermasse Richtung Eßzimmertür bugsierten. Jenseits der Tür lag die Küche; vollgepfropft mit ihren Fleischsägen und ihren Steak-Messern. Vor seinem inneren Auge sah Charlie sich selbst als riesenhafte Statue, die von Hunderten schwitzender Arbeiter zu ihrer letzten Ruhestätte gezogen wurde. Die Verfrachtung dorthin war nicht einfach: Der Körper bewegte sich unter Schaudern und ruckartigen Schüben, die Zehennägel verfingen sich in den Veloursschlingen, das Fett des Brustkastens wurde wund gerieben. Aber jetzt war die Küche nur noch einen Meter weit entfernt. Charlie spürte die Schwelle an seinem Gesicht.
    Und jetzt waren die Fliesen unter ihm, eiskalt. Während sie ihn die letzten Meter über den Küchenboden zerrten, kehrte sein blockiertes Bewußtsein sprunghaft zurück. Im schwachen Mondlicht konnte er die altvertraute Szene sehen, den Herd, den summenden Kühlschrank, den Treteimer, den Geschirrspüler. Sie ragten drohend über ihm auf. Er kam sich vor wie ein Wurm.
    Seine Hände erreichten den Herd. Sie kletterten die Herdfront hinauf, und er folgte ihnen wie ein gestürzter König zum Richtblock. Unerbittlich arbeiteten sie sich jetzt über die Arbeitsfläche voran, die Gelenke weiß vor Anstrengung, seinen schlaffen Körper im Schlepptau. Obwohl er sie weder spüren noch sehen konnte, hatte seine linke Hand die Außenkante der Geschirrschrankplatte erfaßt, unterhalb der Reihe Messer, die an ihren vorgeschriebenen Plätzen im Halter an der Wand saßen. Glatte Messer, Wellschliffmesser, Schälmesser, Vorlegemesser – alle griffbereit neben der Hackbank plaziert, deren Abflußrinnen in die fichtennadelduftende Spüle liefen.
    In weiter Ferne glaubte er Polizeisirenen zu hören, aber wahrscheinlich rührte das von seinem dröhnenden Hirn her.
    Ansatzweise drehte er den Kopf. Ein Schmerz pulsierte von einer Schläfe zur anderen, aber die Benommenheit war nichts im Vergleich zu den schrecklichen Saltosprüngen in seinen Eingeweiden – als er endlich registrierte, was sie vorhatten.
    Die Klingen waren alle geschliffen, das wußte er. Scharfe Küchenutensilien waren ein sakrosanktes Muß für Ellen. Er fing an, seinen Kopf hin und her zu schütteln; eine letzte rasende Verneinung des ganzen Alptraums. Aber es gab niemanden, den man hätte um Gnade bitten können. Bloß seine eigenen Hände, hol sie der Teufel, die diesen endgültigen Irrsinn ausheckten.
    Dann läutete die Türglocke. Es war keine Täuschung, Sie läutete einmal, dann wieder und wieder.
    »Da!« sagte er laut zu seinen Schindern. »Hört ihr das, ihr Sauhunde? Es kommt jemand. Wußt’ ich’s doch.«
    Er versuchte, sich hochzurappeln, richtete dabei den Kopf auf seiner schwindligen Achse wieder gerade, um zu sehen, was die aberwitzigen Monster trieben. Sie hatten sich schnell bewegt. Sein linkes Handgelenk war auf der Hackbank bereits säuberlich zurechtgelegt…
    Wieder läutete die Türglocke, ein langes, ungeduldiges Geklingel.
    »Hier!« gellte er heiser. »Hier herin bin ich. Tretet die Tür ein!«
    Entsetzensvoll blickte er von der Hand zur Tür, von der Tür zur Hand, und rechnete sich seine Chancen aus. Mit unüberstürzter Zielstrebigkeit langte seine rechte Hand nach dem Hackmesser hinauf, das vom Loch in seiner Klinge am Ende des Halters herabhing. Selbst jetzt konnte er es nicht ganz glauben, daß seine eigene Hand – sein Gefährte und Verteidiger, das Körperglied, das seinen Namenszug schrieb, das sein Weib streichelte – sich anschickte, ihn zu verstümmeln. Sie hob das Hackmesser vom Haken und pendelte das Gleichgewicht des Werkzeugs aus, unverschämt langsam.
    Hinter sich hörte er das Geräusch von zersplitterndem Glas –
    die Polizei zerbrach die Scheibe in der Haustür. Eben jetzt würden sie durch das Loch zum Schloß langen und die Tür öffnen. Wenn sie schnell (sehr schnell) wären, könnten sie die Tat noch verhindern.
    »Hier!« gellte er. »Hier herin!«
    Der Schrei wurde von einem dünnen Pfeifen beantwortet: der Laut des Hackmessers, als es – schnell und unfehlbar – auf sein wartendes Handgelenk herunterfiel. Die Linke fühlte sich an ihrer Wurzel getroffen, und eine unaussprechliche Heiterkeit durchschoß ihre fünf Glieder. In heißen Spritzern taufte Charlies Blut ihren Rücken.
    Der Kopf des Tyrannen gab keinen Laut von sich.
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