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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4
Autoren: Clive Barker
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Innere der Schublade war ein Muster an Organisation: Hier lagen seine Schlüssel, sein Notizbuch, sein Dienstplan und –
    versteckt im hintersten Winkel – sein Kukri-Messer, das ihm ein Gurkha im Krieg geschenkt hatte. Er hatte es immer dort parat, bloß für den Fall, daß die Heiminsassen aufmüpfig wurden. Das Kukri-Messer war eine vortreffliche Waffe; seiner Ansicht nach gab es keine bessere. Über die Klinge war bei den Gurkhas eine Geschichte in Umlauf: Sie könne den Hals eines Mannes so sauber durchtrennen, daß der Feind der Meinung sei, der Hieb habe ihn verfehlt – bis er nicke.
    Seine Hand hob das Kukri-Messer an dem mit Inschriften versehenen Griff auf und brachte die Klinge rasch – zu rasch für den Colonel, um ihre Absicht vor vollendeter Tat zu erfassen – auf sein anderes Handgelenk herunter, um ihm die Hand mit einem einzigen mühelos-eleganten Streich abzuhacken. Der Colonel wurde weiß, als Blut aus seinem Armwunde hervorsprudelte. Er taumelte rückwärts, stolperte dabei über seinen Drehstuhl und knallte hart gegen die Wand seines kleinen Dienstzimmers. Ein Porträt der Queen fiel von seinem Haken und ging neben ihm zu Bruch.
    Der Rest war ein Todestraum: Hilflos sah er zu, wie die beiden Hände – eine davon seine eigene, die andere die Bestie, die diesen Untergang angestiftet hatte – das Kukri-Messer ergriffen wie die Axt eines Riesen; sah seine übriggebliebene Hand zwischen seinen Beinen herauskriechen und sich für ihre Befreiung bereithalten; sah, wie das Messer gehoben wurde und wie es niedersauste; sah, wie das Handgelenk größtenteils durchschnitten, dann weiter bearbeitet, wie das Fleisch auseinandergefetzt, der Knochen durchgesägt wurde.
    Zuallerletzt, als der Tod ihn holen kam, fiel sein Blick auf die drei wundenköpfigen, Kapriolen schlagenden Tiere ihm zu Füßen, während seine Stümpfe wie Wasserhähne rannen und die aus der Lache aufsteigende Hitze ihm den Schweiß auf die Stirne trieb, trotz der Frostkühle in seinen Eingeweiden.
    Dankeschön und gute Nacht, Colonel Christie.
    Läßt sich gut an, dieses Revolutionsgeschäft, dachte die Linke, als das Trio die Treppe des CVJM-Gebäudes erklomm. Von Stunde zu Stunde wurden sie stärker. Im ersten Stock befanden sich die Zellen; in jeder ein Gefangenenpaar. Die Despoten lagen in aller Unschuld da: die Hände auf der Brust oder auf den Kissen, oder, traumumfangen, vors Gesicht geworfen, oder dicht überm Boden hängend. Geräuschlos schlüpften die Freiheitskämpfer durch Türen, die man angelehnt gelassen hatte, und kletterten die Bettlaken hinauf, brachten Finger mit wartenden Handflächen in Berührung, streichelten verdrängten Groll hoch, erweckten liebkosend Rebellion zum Leben…

    Boswell fühlte sich hundeelend. Er beugte sich über den Ausguß in der Toilette am Ende des Ganges und versuchte sich zu übergeben. Aber es war nichts mehr vorhanden in ihm, bloß ein Flattern in der Magengrube. Sein überstrapazierter Unterleib fühlte sich mürbe an; sein Kopf geschwollen. Warum lernte er nie aus seiner eigenen Schwäche? Er und Wein waren ein übles Gespann, schon immer. Das nächste Mal, schwor er sich, würde er das Zeug nicht anrühren. Erneut stülpte sich ihm der Magen um. Es kommt ja nichts, dachte er, während ihm der Krampf die Speiseröhre hinaufjagte. Er hielt seinen Kopf über den Ausguß und würgte; na klar doch, nichts. Er wartete, bis der Brechreiz abflaute, und richtete sich dann auf, musterte sein graues Gesicht in dem schmierigen Spiegel. Siehst krank aus, Mann, sagte er sich. Als er seinen eher asymmetrischen Zügen die Zunge herausstreckte, begann draußen auf dem Gang das Geheul. In seinen zwanzig Jahren und zwei Monaten hatte Boswell noch nie ein vergleichbares Geräusch gehört.
    Vorsichtig ging er zur Toilettentür. Er überlegte es sich zweimal, sie zu öffnen. Was auch immer auf der anderen Seite der Tür vor sich ging, es hörte sich nicht an wie eine Party, auf der er ungebeten erscheinen wollte. Aber es handelte sich doch um seine Freunde, oder? Um seine Leidensgenossen. Wenn ein Kampf ausgebrochen war, oder ein Feuer, dann mußte er helfen.
    Er schloß die Tür auf und öffnete sie. Der Anblick, der sich seinen Augen bot, traf ihn wie ein Keulenschlag. Der Korridor war schlecht beleuchtet; ein paar schmuddlige Glühbirnen brannten in unregelmäßigen Abständen, und hie und da fiel aus den Schlafräumen ein Lichtstrahl auf den Gang – aber größtenteils lag er in Dunkelheit.
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