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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4
Autoren: Clive Barker
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Welt uns gehört?
    Charlie wußte, daß er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Er ertappte sich gelegentlich beim flüchtigen Hinabschauen auf seine Hände, gerade rechtzeitig, um mit anzusehen, wie ihre hochgereckten Zeigefinger, den Köpfen langhälsiger Bestien gleich, das Terrain sondierten. Er ertappte sich, paranoid wie er war, beim Bestarren der Hände anderer, nachgerade besessen davon, wie sich Hände in ihrer eigenen Sprache verständigten, unabhängig von den Absichten ihrer Benutzer. Die verführerischen Hände der jungfräulichen Sekretärin, die in einer Fernsehsendung beobachteten delirierenden Hände eines Killers, die dessen Unschuld beteuerten. Hände, die ihre Besitzer mit jeder Geste hintergingen, Wut mit Rechtfertigung und Liebe mit Raserei konterkarierten. Sie schienen überall zu sein, diese Zeichen von Meuterei. Schließlich wurde ihm klar, daß er mit jemandem reden mußte, bevor er noch den Verstand verlor.
    Charlies Wahl fiel auf Ralph Fry von der Buchhaltung: einen nüchternen, wenig anregenden Mann, zu dem er Vertrauen hatte. Ralph zeigte großes Verständnis.
    »Vor so was ist keiner sicher«, sagte er. »Mir ging’s so, als mich Yvonne verlassen hat. Scheußliche Nervenzustände.«
    »Und was hast du dagegen unternommen?«
    »Bin zu ’nem Seelenklempner. Heißt Jeudwine. Probier’s doch mit ’ner Therapie. Bist danach ’n neuer Mensch.«

    Charlie ließ sich die Idee durch den Kopf gehen. »Warum eigentlich nicht?« sagte er nach kurzem Widerstreben. »Ist er teuer?«
    »Ja. Aber er ist gut. Bin durch ihn meine Zuckungen losgeworden, mit links. Also, bevor ich bei ihm gelandet bin, hab’ ich mich für die Durchschnittstype mit den üblichen Eheproblemen gehalten. Und schau mich jetz’ an«, Fry machte eine ausladende Geste, »ich hab’ so viele verdrängte libidinöse Triebe, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.« Er grinste wie ein Irrer. »Fühl’ mich aber pudelwohl dabei. Hab’
    mich nie wohler gefühlt. Laß ihn nur machen; dauert nicht lang, und er sagt dir, was dich auf Touren bringt.«
    »Sex ist nicht das Problem«, sagte Charlie Fry.
    »Mir kannst du’s glauben«, sagte Fry mit wissendem Grinsen. »Sex ist immer das Problem.«
    Tags darauf rief Charlie Dr. Jeudwine an, ohne Ellen etwas davon zu sagen, und die Sekretärin des Psychofritzen gab ihm einen Termin für die erste Sitzung. Charlies Hände schwitzten bei dem Telefongespräch derartig, daß er meinte, der Hörer werde ihm gleich aus der Hand rutschen, aber hinterher fühlte er sich besser.
    Ralph Fry hatte recht, Dr. Jeudwine war tatsächlich gut. Er lachte über keine der kleinen Ängste, die ihm Charlie beichtete, ganz im Gegenteil; er lauschte jedem einzelnen Wort mit größtem Interesse. Es war sehr beruhigend.
    Im Verlauf ihrer dritten gemeinsamen Sitzung ließ der Arzt eine bestimmte Erinnerung Charlies in sensationeller Frische Wiederaufleben: die Hände seines im Sarg liegenden Vaters, gekreuzt über seiner tonnenförmigen Brust; die rötliche Farbe, der grobe Haarfilz, der die Handrücken bedeckte. Die sogar noch im Tode absolute Autorität dieser großen Hände hatte Charlie danach monatelang verfolgt. Und hatte er sich nicht, während er zusah, wie man den Leib dem Erdreich überantwortete, eingebildet, daß er noch keine Ruhe gebe? Daß die Hände eben jetzt gegen den Sargdeckel trommelten und verlangten, herausgelassen zu werden? Es war ein hirnrissiger Gedanke, aber es tat Charlie ausgesprochen gut, ihn an die Öffentlichkeit zu bringen. Im hellen Licht von Jeudwines Praxis wirkte das Phantasiegebilde abgeschmackt und lächerlich. Es erschauerte unter dem Blick des Arztes, protestierte gegen das überstarke Licht und stob dann davon, zu hinfällig, um einer genauen Überprüfung standzuhalten.
    Die Austreibung war weitaus einfacher, als Charlie erwartet hatte. Schon ein bißchen Sondieren hatte gereicht, um diesen Kindheitsblödsinn aus seiner Psyche zu entfernen wie ein festgebissenes Stückchen Fleisch aus seinen Zähnen. Es konnte dort nicht mehr vor sich hinfaulen. Und was Jeudwine anging, so war dieser von den Ergebnissen offenkundig äußerst angetan: Nachdem die Sache abgeschlossen war, erklärte er, daß diese spezielle Obsession neu für ihn gewesen sei und er sich gerne mit dem Problem auseinandergesetzt habe. Hände als Symbol väterlicher Macht, so sagte er, seien unüblich.
    Normalerweise, so erklärte er, herrsche in den Träumen seiner Patienten der Penis vor,
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