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Danach

Danach

Titel: Danach
Autoren: Koethi Zan
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die Tür hinter sich und wartete draußen, bis ich alle Schlösser wieder abgeschlossen hatte. Erst als er das letzte Klicken hörte, ging er davon. Er kannte mich gut.

3
    Ich verbrachte drei Tage allein mit dem Brief in der Wohnung. Ich legte ihn in die Mitte des Esstischs, strich stundenlang um ihn herum und dachte nach. Mir war klar, dass ich ihn irgendwann lesen würde, natürlich würde ich ihn lesen. Denn das war die einzige Möglichkeit, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Ich musste Jennifers Leiche finden. Das war das Mindeste, was ich für sie tun konnte, und für mich. Während ich auf den Brief starrte, allein mit meiner Angst, stellte ich mir vor, wie Jennifer mit ihren leeren Augen zu mir emporblickte und mich wortlos anflehte. Finde mich .
    Zehn Jahre zuvor hatte das FBI seine besten Leute auf den Fall angesetzt. Diese Leute hatten ihn stundenlang verhört, aber er hatte ihnen nichts verraten. Das hätte ich ihnen vorher sagen können. Er war kalt und methodisch und fürchtete – wie ich genau wusste – keine der Strafen, die ihm in Aussicht gestellt wurden. Niemand konnte ihm etwas anhaben.
    Dieser Mann hatte die Verwaltung der University of Oregon mehr als zwanzig Jahre lang zum Narren gehalten. In meinem Kopf hatte sich ein Bild von ihm festgesetzt, wie er am Rednerpult eine Vorlesung hielt, während seine eifrigen Studenten jedes Wort mitschrieben. Wie er ihre Bewunderung genossen haben musste! Ich sah förmlich vor mir, wie seine studentischen Hilfskräfte allein mit ihm in diesem stickigen kleinen Büro saßen, das ich mit dem Staatsanwalt besucht hatte. Als Christine verschwunden war, hatte niemand eine Verbindung zu ihm gesehen, obwohl sie eine seiner Lieblingsstudentinnen gewesen war. Der gute alte Professor Jack Derber, was für ein feiner Kerl er doch war, so ein wunderbarer, geistreicher Professor! Jack Derber, der sich ein schönes Leben aufgebaut hatte und sogar ein kleines Häuschen in den Bergen besaß, das ihm seine Adoptiveltern vermacht hatten. Niemand ahnte, dass das Häuschen einen so weiträumigen Keller hatte. Seine Eltern hatten diesen Keller zum Pökeln und Einmachen benutzt. Er nicht.
    Ich riss mich von meinen Gedanken los. Ich war hier. In Sicherheit. In meiner Wohnung, wo ich am Esstisch saß und diesen Brief anstarrte. So lange, dass ich bereits die Knitterfalten des Papiers auswendig kannte, die Linie, entlang deren der Polizeilaborant den Brief mit einem scharfen Gegenstand geöffnet hatte. Die Schnittkante war makellos. Derber hätte das gefallen. Er wusste saubere Schnitte zu schätzen.
    Mir war klar, dass der Inhalt bereits sorgfältig analysiert worden war, aber ich wusste auch, dass ich etwas finden würde, was nur ich verstand. Denn so tickte er: Er stellte immer eine persönliche Beziehung her, ging immer in die Tiefe. Er drang in die Gedanken der Menschen ein, kroch in sie hinein wie eine Giftschlange in ein Erdloch in der Wüste und rollte sich dort zurecht, bis er sich vollkommen zu Hause fühlte. Im Keller hatte uns die eigene körperliche Schwäche dazu gezwungen, unseren Peiniger als Retter anzusehen, und es ist schwer, einem Retter zu widerstehen, ihn wegzustoßen. Denn nachdem er einem, vielleicht für immer, alles genommen hatte, gewährte er als Einziger, was das Überleben sicherte: Essen, Wasser, Hygiene. Das kleinste Zeichen der Zuneigung. Ein kurzes, tröstendes Wort. Ein Kuss in der Dunkelheit.
    Gefangenschaft verändert einen, zeigt einem, wie niedrig und animalisch der Mensch sein kann. Man tut absolut alles, um am Leben zu bleiben und ein bisschen weniger zu leiden als am Tag zuvor.
    Und deshalb flößte mir der Brief so große Angst ein: weil er mich daran erinnerte, wie viel Macht Jack Derber über mich besessen hatte und letztendlich immer besitzen würde. Ich hatte Angst, weil der Umschlag Worte enthalten konnte, die mächtig genug waren, um mich wieder in den Keller zurückzuversetzen.
    Aber ich wusste, dass ich Jennifer nicht noch einmal im Stich lassen durfte. Auf keinen Fall wollte ich mit dem Wissen ins Grab gehen, dass ihr Körper – wo auch immer er sie verscharrt hatte – tiefer und tiefer in die Erde hinabsank, allein und vergessen.
    Ich konnte jetzt stark sein. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich jetzt nicht mehr hungerte, gefoltert wurde, nackt war, dass ich nicht mehr Licht und Luft und normalen Körperkontakt vermisste. Normalen Körperkontakt vielleicht schon, aber das hatte ich mir selbst
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