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Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern

Titel: Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Autoren: Kösel
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… manchmal mag ich gar nichts mehr … nur weg, weg.«
    »Wie meinst du das? Weg...«
    »Halt nicht mehr da sein …. Ich bin eine Enttäuschung, hat die Mama gestern gesagt.«
    Sie weint, diesmal sehr lange. Und zwischendurch immer wieder einmal dieser entleerte Blick. Grauenhaft. Wie der einer Toten.
    »Du bist keine Enttäuschung. Du bist ein wunderbares Mädchen. Aber du bist sehr enttäuscht, dass es nie um dich und deine Wünsche geht. Und gerade merkst du, dass du deine Wünsche nicht einmal kennst. Und das tut sehr weh: Du kennst die Wünsche deiner Eltern so gut, aber nicht deine eigenen. Wir werden sie finden, das versprech ich dir - und deinen Eltern werde ich, wenn sie bereit sind, dabei helfen, ihre eigenen Wünsche wiederzufinden. Ist doch klar, dass du dieses Leben hasst. Aber vielleicht oder ziemlich sicher werden wir hinter diesem verhassten Leben dein eigenes entdecken. Und darauf freue ich mich.«
    Julia hat, nach einer nochmaligen schweren Krise, ihr eigenes Leben gefunden - und die Eltern haben es zugelassen. Drei Jahre haben die hartnäckige Suche nach den eigenen Träumen und der Kampf um die eigenen Leidenschaften gedauert. Julia war dabei mindestens so hartnäckig wie ich. Die Suche hat alle bereichert, auch mich. Die Arbeit mit dieser Jugendlichen hat mich einmal mehr darin bestärkt, dass das Schlüsselwort von uns Erwachsenen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen Neugierde ist. Neugierde, die erfahren will, die damit rechnet, einem unbekannten Menschen zu begegnen.

Unsere unbekannten Kinder
    Es gibt meiner Meinung nach ein großes Missverständnis unter Eltern. Eltern glauben, ihre Kinder zu kennen. Man war ja schließlich vom ersten Tag ihrer Geburt an dabei. Man hat ihr erstes Lächeln empfangen, ihnen an der Brust oder Flasche beim Trinken zugeschaut, ihren süßen kleinen Körper als Erstes berührt, sie die ersten Worte finden, die ersten Schritte ausprobieren sehen.
    Wenn Eltern die Bemerkung »Wissen Sie, ich kenn mein Kind genau...« fallen lassen, tun mir diese Worte fast körperlich weh. Oft erreichen diese Worte gerade in dem Augenblick mein Ohr, in welchem ich den Eltern eine größere Neugierde auf ihr Kind nahelegen möchte. Wie kommt es zu dieser oft falschen Einschätzung?
    Eltern, und davon nehme ich mich nicht aus, haben neben ihrem leibhaftigen Kind aus Fleisch und Blut immer noch ein zweites Kind vor Augen: das Kind im Kopf. Dieses Kopf-Kind spukt den Eltern vom Moment der Zeugung an im Kopf herum, das heißt, sobald klar ist, dass ein Kind im Entstehen begriffen ist. Eine Mutter sagte zu mir voller Entsetzen: »Ich kriege noch einen zweiten Jungen … bin so enttäuscht.« Oder ein Vater, lachend und ernst zugleich: »Jetzt kommt die Nachfolgerin doch noch … die Firma stirbt nicht aus.« Die Nachfolgerin war zu dem Zeitpunkt noch im Mutterleib. Gewiss, er hatte scherzhaft nur eine Fantasie mitgeteilt. Doch warum gerade diese? Gedanken sind viel mehr als Gedanken, wie uns die Neurobiologie eindrucksvoll zu beweisen vermag. Gedanken erzeugen einen bestimmten Gefühlszustand, der wiederum hirnorganisch dazu tendiert, psychosomatische Realitäten zu entwerfen.
    Wie oft erlebe ich Mütter und Väter, die in ihren Kindern Potenziale zu erkennen glauben, die mehr über die nicht gelebten und erfahrenen Wünsche der Eltern Aussagen machen als
über das Kind, das mir in der Praxis begegnet! Eine ehrgeizige Mutter zwingt ihr Kind in den Klavierunterricht, »… weil ich es unendlich bedaure, nie ein Instrument gespielt zu haben. Und ich sehe doch, wie talentiert sie ist. Wenn sie üben würde, wäre sie spitze.« Sara übt aber nicht.
    Ein völlig unsportlicher Vater, der darunter leidet, dass er kein männliches Vorbild in der Herkunftsfamilie hatte, verwendet viel freie Zeit darauf, den einen Sohn zu Judoturnieren zu begleiten, den anderen beim Fußballtraining zu unterstützen. Wobei »überwachen« hier wohl der passendere Ausdruck wäre. Beide Jungen wollen die Erwartungen ihres Vaters nicht enttäuschen, strengen sich an. Der Jüngere bringt vor einem Turnier keinen Bissen mehr hinunter, der Ältere, gerade 16 geworden, geht in den passiven Widerstand: Er verletzt sich auffällig oft seit einem Jahr. Als ich ihn darauf anspreche, dass er sechs Jahre lang keine einzige Verletzung gehabt habe und jetzt alle paar Monate ausfalle, meint er mit einem schiefen Grinsen: »Machen Sie jetzt auch schon Stress? Mein Vater hat, wie ich mir die Bänderverletzung zugezogen habe,
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