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Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters
Autoren: Henning Mankell
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in die graue Milchkanne, die Elna ihm reicht. Elna bezahlt fünfundzwanzig Öre, und der Mann stopft sie in seine zerschlissene Börse. »Ich heiße Isak Fjällberg«, sagt er leise, als hätte er Angst, jemand Unbefugtes könnte ihn hören. »Die, die ihr in der Küche gesehen habt, waren meine Frau und drei norwegische Flüchtlinge. Da ist nichts Ungesetzliches dabei, aber ihr braucht trotzdem nicht darüber zu reden.«
    Im selben Augenblick kommt das Mädchen hinaus auf den Hof. Sie ist elf, vielleicht zwölf Jahre alt. Sie bleibt ein paar Meter vor Vivi stehen und starrt auf ihren Kopf.
    Vivi hat einen kleinen Kamm in ihr Haar gesteckt, sodass es ihr nicht ins Gesicht fällt, wenn sie radelt. Außerdem ist es Mode, sie hat den Kamm in einem Geschäft in Landskrona geklaut.
    Das Mädchen schaut mit großen Augen auf diesen Kamm.
    »Sie sind heute Nacht herübergekommen«, sagt Isak Fjällberg. »Sie sind müde, sie müssen später am Tag weiter. Sie sind eine Woche lang durch die Wälder gezogen, bevor sie es hierhergeschafft haben.«
    Vivi ist impulsiv, sie löst den Kamm und gibt ihn dem norwegischen Mädchen, das ihn zögernd annimmt. Dann knickst es und läuft wieder ins Haus.
    Jemand knickst vor Vivi? Herrgott, was sie durchgemacht haben müssen. Denn man knickst doch nicht vor Gleichaltrigen, schon gar nicht vor einer Werftarbeitertochter?
    Isak Fjällberg lächelt und murmelt etwas Unverständliches.
    Vivi und Elna sehen sich an. Endlich haben sie etwas vom Krieg zu sehen bekommen. Elna denkt, dass dies etwas ist,woran sie sich immer erinnern wird, solange sie lebt. In jedem Fall wünscht sie sich das.
    Sie bekommen die Erlaubnis, sich auf die Treppe zu setzen, um zu frühstücken. Isak Fjällberg steht untätig auf dem Hofplatz, es sieht aus, als ob er lausche. Aber er ist nur müde. Er ist Grenzlotse, gehört zu dem letzten entscheidenden Glied in der Kette, die in diesem Gebiet, südlich von Röros und nördlich von Trysil, nachts über die Grenze nach Norwegen geht und norwegische Flüchtlinge in Sicherheit bringt, außer Reichweite der Nazis und der furchtbaren Denunzianten.
    Vivi und Elna bleiben auf dem einsamen Fjällhof. Als der Nebel verschwindet, haben sie den Gedanken aufgegeben, zu einem Badesee zu fahren. Niemand scheint etwas gegen ihre Anwesenheit zu haben, vielleicht denkt Isak Fjällberg sogar, es sei gut, sie in der Nähe zu haben, bis er am Nachmittag die drei Flüchtlinge weiter das Tal hinunter zur Sammelstation geführt hat. Das Mädchen, das Vivis Kamm bekommen hat, heißt Toril. Während ihre Mama und ihr kleiner Bruder, die nach den langen, erschreckenden Tagen der Flucht erschöpft sind, im Haus ausschlafen, sucht sie die Nähe von Vivi und Elna. Ihre Schüchternheit vergeht, sie hat das Bedürfnis zu erzählen, berichtet von ihren Ängsten. Und Isak Fjällberg ergänzt, was fehlt, er wippt vor und zurück und wartet darauf, dass die Mutter und der Junge aufwachen und in der Lage sind weiterzugehen. Seine Frau Ida zeigt sich kaum. Sie wacht über die zwei Schlafenden in der Kammer, in ihrem und Isaks Bett. Als Norwegen im April 1940 angegriffen wurde und die Flüchtlingsströme eintrafen, zögerten sie nicht, es war selbstverständlich zu helfen. Und beide haben gute Kontakte zu ihren Nachbarn auf der anderen Seite der Grenze. Isak ist bekannt im Grenzgebiet, ihm kann man vertrauen, er hat keine Angst und ist jederzeitbereit, sich auf den Weg zu machen, wenn der Anruf kommt. Manchmal schläft er keine einzige Nacht, und am Tag muss er seiner Arbeit als Holzfäller nachgehen. Nur heute ist er gezwungen, die Flüchtlinge noch weiter bis zur Sammelstelle zu führen. Der, dessen Aufgabe das normalerweise ist, liegt krank darnieder. Ida nimmt sich der Flüchtlinge an, wenn sie über die Grenze gekommen sind. Dann erlebt sie oft die Reaktionen: Schreie und Zusammenbrüche, Apathie. Niemand weiß, wie sie es schafft, allen diesen Menschen etwas zu essen zu geben, die zu kleiden, die es nötig haben. Sie und Isak sind arme Fjällbauern, sie haben keinen Überfluss. Aber es geht alles, wenn es gehen muss.
    Toril hat lebendige Deutsche gesehen. Für Vivi und Elna ist das die große Sensation. Es ist nicht länger als zwanzig Stunden her. Sie berichtet in ihrem singenden Norwegisch (Vivi und Elna staunen, dass es so leicht zu verstehen ist) von dem letzten kritischen Teil der Flucht, kurz bevor sie in den Wald sollten, um dem schwedischen Lotsen übergeben zu werden, welcher also Isak war.
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