Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran
Autoren: Vanessa Giese
Vom Netzwerk:
Dielen und hohen Decken träumt, mit efeuberanktem Hinterhof und der freudvollen Wärme eines Künstlerviertels.
    Wer zugeben muss, dass er im dritten Stock eines Mietshauses in Essen-Steele wohnt, der kommt beim Klassentreffen in Rechtfertigungsnot, und auch innerfamiliär werden Zweifel gehegt: Bei jedem Kaffeekränzchen muss sich der Zugezogene von sorgenvoll umwölkten Mienen fragen lassen, wie es ihm dort ergeht, wo er jetzt zu leben gezwungen ist, ob sich bereits gesundheitlich Beeinträchtigungen eingestellt haben und ob sich inzwischen «etwas Neues» ergeben hat, etwas, das die Möglichkeit eröffnet, der unerquicklichen Situation baldigst zu entfliehen. Denn Ruhrgebiet, das ist das Bitterfeld des Westens, das sind Schmutz und Rost, Autobahnen, Schwerverkehr und Eisenbahntrassen, im besten Fall Industriekultur und von Wiesen gesäumte Kanäle, auf denen Kette rauchende Binnenschiffer Kohle nach Amsterdam fahren.
    Es ist nicht so, dass ich meine Heimatstadt hätte verlassen müssen. Ich hatte Arbeit, ich hatte eine Wohnung mit Blick auf Felder, die im Sommer goldgelb leuchteten, ich hatte einen Freund, der mir am Wochenende Brötchen holte und sich baldigst um das Amt des Schützenkönigs beworben hätte. Doch ich habe Schluss gemacht: erst mit dem Freund, dann mit der Arbeit.
    Meine Mutter war entsetzt. «Er ist doch ein so netter junger Mann», sagte sie des Sonntags auf dem Sofa und sah mich mit bebender Unterlippe an. Dann begann sie zu weinen. Was denn jetzt werden solle, fragte sie. «Ich dachte, du würdest mich bald zur Oma machen.»
    Die Mutter zur Oma, den Freund zum Schützenkönig – danke, nein. Ich sagte ihr, dass ich nicht nur dem Mann, sondern auch meinen Job gekündigt hatte. Sie griff in die Sofaritze, zog das Taschentuch heraus, das sie stets dort hineinstopft, damit es nicht ihre Hosentasche ausbeult, und hielt es sich verschreckt vor den Mund, als sei hinter mir gerade ein entsetzlicher Unfall geschehen. «Was hat das zu bedeuten, Kind?», fragte sie mit der spirituellen Stimme einer 9 Live-Wahrsagerin.
    Ich antwortete ihr, ich könne nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten, jetzt, wo Schluss sei. Und raus wolle ich auch mal – nicht ewig im Sauerland bleiben.
    Mutter heulte noch ein bisschen, schnäuzte sich, heulte weiter und stopfte dann das Taschentuch zurück in die Sofaritze. Ich solle es mir noch einmal überlegen, Daniel nehme mich bestimmt zurück. Er sei doch so ein netter junger Mann.
    Ich atmete tief ein und entgegnete, Daniel habe drei Rentenversicherungen, er kämme die Teppichfransen, er habe ein «Bitte im Sitzen pinkeln»-Schild in unseren Klodeckel geklebt.
    Sie begann erneut zu weinen. «Aber immerhin ist Dortmund nah bei.»
    Hätte ich in Bayern Arbeit gefunden, hätte meine Mutter wohl ihre eigene Buslinie gegründet. Denn auf der inneren Landkarte liebender Eltern liegt Bayern kurz vor Marokko und ist nur zu erreichen, wenn man ausreichend hartgekochte Eier und selbstgerollte Frikadellen einpackt. Bis nach Dortmund reicht ein Leberwurstbrot.

    Böhm und ich verabschieden uns auf der Straße vor der Haustür. Er steigt in einen blass-silbernen Opel Kadett mit Sitzauflagen aus Holzkugeln. Ein Wunderbaum baumelt am Innenspiegel. Als er den Wagen anlässt, röhrt und wippt der Auspuff unter dem Bodenblech. Gemächlich knatternd fährt er davon.
    Ich drehe mich noch einmal zum Haus um und blicke die Fassade hinauf. Kein Altbau, kein Jugendstil. Beides gibt es hier zwar auch, aber nur dort, wo es nicht weggebombt wurde, und weil fast alles im Ruhrgebiet mal weggebombt wurde, sehr selten. Die Fassade ist also einfach glatt und braun. Rund um die Fenster blättern Stücke gelber Farbe ab.
    Im Erdgeschoss, einen halben Meter über meinem Kopf, öffnet sich ein Fenster, und ein kleiner, etwas dicklicher Mann mit grauem Haar steckt seinen Kopf hinaus. Der Reißverschluss seiner Joggingjacke ist leicht geöffnet und lässt ein Feinripp-Unterhemd sehen, aus dem weiße Brustbehaarung quillt.
    «Tach!», sagt er. «Schmidtchen mein Name. Ich pass hier auf dat Haus auf.»
    Ich sage: «Hallo. Ich habe mir grad die Wohnung im Dachgeschoss angesehen.»
    «Von Wolfgang die?»
    «Die von Herrn Böhm.»
    «Sach ich doch, von Wolfgang. Und? Willze einziehen?»
    «Zum nächsten Ersten.»
    «Wenn dat ma keine gute Nachricht is: demnächst ’ne schöne Blondine als Nachbarin!» Er zwinkert ungelenk mit dem rechten Auge und lächelt dabei schelmisch. Es hat ein bisschen was von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher