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CyberCrime

CyberCrime

Titel: CyberCrime
Autoren: M Glenny
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einigermaßen schmackhaft, und die Wachen verhalten sich nicht nur mir gegenüber höflich, sondern auch gegenüber den Gefangenen. Die Bedingungen sind hier in mehrfacher Hinsicht denen in vielen britischen Gefängnissen vorzuziehen.
    In Tekirdağ sitzen einige berüchtigte Verbrecher, unter anderem der Anstifter des Mordes an Hrant Dink, einem Schriftsteller armenischer Volkszugehörigkeit, der von Extremisten ermordet wurde, weil er – nun ja – ein Schriftsteller armenischer Volkszugehörigkeit war. Ebenfalls ist es nicht verwunderlich, dass hier einige der schlimmsten türkischen Drogenbarone einsitzen.
    Zwischen den Terroristen und Mafiabossen findet sich ein Vertreter der modernsten Form von Gesetzesübertretungen: ein Cyberkrimineller. Mehr als ein Jahr hat es gedauert, bis ich einen Gesprächstermin mit Çağatay Evyapan bekommen habe: Ich musste dazu sowohl die türkischen Behörden als auch ihn selbst überzeugen. Monatelang schien das völlig unmöglich zu sein. Dann, an einem Montag im März 2011, erhielt ich zu meinem großen Erstaunen eine Nachricht der Gefängnisverwaltung in Ankara, in der man mir mitteilte, wenn Çağatay selbst dazu bereit sei, dürfe ich am Mittwoch dieser Woche mit ihm zusammentreffen. Danach, so wurde mir erklärt, werde Çağatay verlegt, und damit wäre meine Gelegenheit vorüber.
    Was die türkischen Behörden nicht wussten und was sie auch nicht interessiert hätte: Mein Pass befand sich tief in den Eingeweiden der Konsularabteilung der chinesischen Botschaft in London, bei der ich ein Visum beantragt hatte. Meine Versuche, den Pass zurückzubekommen, um am Dienstag in die Türkei zu fliegen, wurden von den chinesischen Beamten bürokratisch abgeschmettert. Stattdessen wandte ich mich unmittelbar an das Tekirdağ-Gefängnis und bat darum, das Gespräch um einen Tag zu verschieben. Die Antwort, die ich daraufhin erhielt, lautete: Wenn sie vor Donnerstag die Anweisung erhielten, Cha 0 zu verlegen, dürfe ich mich nicht mit ihm treffen, ganz gleich, ob ich bis dahin angereist sei. Dann wäre die Jagd vorüber.
    Entsprechend war ich höchst aufgeregt, als ich mir am Donnerstagmorgen, einen Tag zu spät, meinen Weg durch den Schneesturm von Istanbul nach Tekirdağ bahnte. Es war durchaus möglich, dass man mir bei meiner Ankunft sagen würde, ich hätte die Chance verpasst, Cha 0 persönlich zu treffen. Nach langem Warten wurde ich durch die drei Stahldrehtüren geschleust, in deren Mechanismus ein biometrischer Abdruck meiner Hand gespeichert wurde, und man stellte mich dem Gefängnisdirektor vor. Er war keineswegs der Unhold, mit dem man vielleicht gerechnet hatte, sondern charmant und liebenswürdig. Er erklärte, er habe noch keine Anweisungen aus Ankara erhalten, und nach dem Mittagessen in der Kantine könne ich mit Herrn Evyapan sprechen.
    Schließlich führt man mich in den kleinen, länglichen Raum. Çağatay Evyapan ist vorsichtig, aber auch selbstbewusst. Genau wie Bilal Şen es prophezeit hatte, würde sein Instinkt sofort anschlagen, wenn ich versuchen würde, ihm irgendwelche Informationsbruchstücke auf hinterhältige Weise zu entlocken. Er erinnert mich an Julian Assange, den führenden Kopf von WikiLeaks: ungeheuer klug, aber auch mit einem felsenfesten Glauben an die eigene intellektuelle Überlegenheit, der manchmal wie extremer Narzissmus wirkt.
    Als ich ihm gegenüber die Vermutung äußere, Lord Cyric sei Tony – der rundliche, bebrillte Geschäftsmann, den Mert Ortaç erwähnt hat –, stößt er ein zutiefst verächtliches Schnauben aus. »Sie haben mit dem türkischen Geheimdienst gesprochen, stimmt’s?«, sagt er scharf. In gewisser Weise hat Cha 0 recht: Wenn Mert lügt (was eine realistische Möglichkeit ist), muss der bebrillte Mann vom türkischen Geheimdienst MIT in seine Geschichte eingebaut worden sein.
    Im weiteren Gespräch bestätigt Çağatay jedoch einige wichtige Aspekte aus Merts Geschichte, darunter die Lage der Wohnung, in der Mert nach seiner Entführung festgehalten wurde, und den Informationsaustausch zwischen Mert und Lucy Hoover von der örtlichen US -Botschaft. Außerdem räumt er ein, dass seine Festnahme wieder einmal auf einen Fehler in der realen Welt zurückzuführen ist.
    Bei aller selbstbewussten Intelligenz lässt Cha 0 erkennen, dass er in einem Punkt große Angst hat – ironischerweise ist es die gleiche unausgesprochene Sorge, die auch seinen ständigen Verfolger von der türkischen Polizei umtreibt. Er behauptet,
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