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CyberCrime

CyberCrime

Titel: CyberCrime
Autoren: M Glenny
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mehrere Jahrzehnte vergehen, bevor man sie im Staatswesen ausrotten kann. Das erklärt, warum Bilal Şen solche Angst hatte, als er zum ersten Mal erfuhr, Cha 0 stehe möglicherweise unter den schützenden Fittichen mächtiger Personen aus dem Establishment. Glaubwürdig ist auch, wovon einige von Bilals Polizistenkollegen außerhalb der Türkei überzeugt sind: Danach gehörte der Cha 0 , der auf DarkMarket zu Hause war, zu einer viel größeren Organisation. Die Verbrecherbanden decken in der Türkei verschiedene Bereiche ab: Neben dem Heroinschmuggel fungiert das Land auch als wichtige Drehscheibe des Menschenhandels – ebenfalls wegen der Nähe zur Europäischen Union. Und in den letzten beiden Jahrzehnten wuchs überdies eine große Geldwäschebranche heran.
    Demnach, so die Theorie, war Çağatay Evyapan in Wirklichkeit nur ein Handlanger des eigentlichen Vorstandsvorsitzenden der kriminellen Cha 0 -Holding. Çağatay war dann der Vizepräsident der Abteilung für Cyberkriminalität und fand sich mit seiner Rückkehr ins Gefängnis ab, weil er im übertragenen Sinn »die Kugel vom Chef fernhielt«. Vielleicht ist Şahin ja der Boss des ganzen Unternehmens. Wenn es so ist, muss es Merts »Şahin« tatsächlich geben, aber auch dann hätte Inspektor Şen den Richtigen festgenommen.
    DarkMarket wurde im Oktober 2008 geschlossen, aber niemand bei der Polizei oder unter den Verbrechern selbst hat eine Ahnung von der wahren Geschichte und Bedeutung der Website. Drei Jahre sind seither vergangen, und nur ein winziger Bruchteil der fast 100 Personen, die man rund um die Welt festgenommen hat, wurde bisher vor Gericht gestellt.
    Die Justiz hat im Umgang mit den sehr technischen Beweisen und Indizien in der Cyberkriminalität große Schwierigkeiten. Außerdem schafft das Prinzip, Verbrechen meist in Drittländern zu begehen, ungeheuer hohe Hürden für Aufdeckung und Verfolgung. Bei allen Versuchen, die Mittel und Wege der Cyberkriminalität aufzuklären, spielten Zweideutigkeiten, Zweifel, Illusionen und Heuchelei immer eine wichtige Rolle. Und das Internet vervielfacht ihre Wirkung.

40 Mittagsexpress
    Tekirdağ-Gefängnis, Westtürkei, März 2011
    Der gut aussehende Mann im schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte mustert mich genau, als er den kleinen, länglichen Raum betritt. Die schwarzen Augen unter dem leicht zurückweichenden Haaransatz betonen seinen hypnotischen Blick, und für einen Augenblick verschlägt es mir die Sprache. Hier steht er vor mir: der Mann, über den ich seit fast zwei Jahren gelesen, gesprochen und nachgedacht habe. Und jetzt, wo ich ihn endlich kennenlerne, weiß ich plötzlich nicht mehr, was ich sagen soll.
    Er schmort jetzt schon seit zweieinhalb Jahren im Gefängnis, aber er hat weder seine Gelassenheit noch seine vorsichtige Selbstbeherrschung verloren. Während unseres dreistündigen Gesprächs bin ich mir nur allzu bewusst, dass er mich genauso ausfragt wie ich ihn.
    Zum ersten Mal war ich bereits 1976 kurz in Tekirdağ, kurz bevor das Buch Midnight Express erschien, das später von Alan Parker erfolgreich verfilmt wurde. Es erzählt die Geschichte des jungen Amerikaners Billy Hayes, der dabei erwischt wird, wie er Drogen aus der Türkei herausschmuggeln will. Das Martyrium, das er dann in den Händen eines sadistischen Gefängniswärters erlebt, schockierte das Publikum in ganz Europa und den Vereinigten Staaten. Die Türkei stand zu jener Zeit in dem Ruf, ein brutaler, unnachsichtiger Staat zu sein; auch als ich damals dort war und in einem Zelt übernachtete, wurde ich von einer Gruppe Rowdys angegriffen, die forderten, alle Ausländer sollten nach Hause gehen.
    Und jetzt, 35 Jahre später, bin ich wieder im Tekirdağ-Gefängnis. Wie die Haftanstalt, in der Hayes saß, ist es eine Hochsicherheitseinrichtung. Sie liegt am oberen Ende eines rund eineinhalb Kilometer langen, sanften Abhanges, und rundherum sind öde Felder, so weit das Auge reicht. Im dichten Schneetreiben erkenne ich die hohen, blassbeigen Gefängnismauern und die Wachtürme, die von Silhouetten mit Maschinengewehren besetzt sind. Mein erster Eindruck sagt mir, dass sich seit Parkers Film nichts verändert hat.
    Drinnen jedoch erfahre ich zu meiner Erleichterung, dass sich die Haftbedingungen zumindest in diesem Teil des Landes deutlich verbessert haben. Alle Häftlinge haben einen Fernseher, eine Dusche und eine Toilette in der Zelle. Das Essen ist ein wenig spartanisch, aber zweifellos nährstoffreich und
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