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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo
Autoren: corley
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Verstümmelungen das Leichentuch verbarg, und schluckte schwer, um sich für den Anblick des Gesichtes ihrer Mutter zu wappnen.
    Es war schön. Wie eh und je. Wundersamerweise war das Gesicht ihrer Mutter unversehrt geblieben. Noch unglaublicher war, dass der Bestatter der Versuchung widerstanden hatte, sie mit Farben zu schminken, die sie im Leben nie getragen hätte.
    Das hellbraune Haar, ohne eine Spur von Grau, Tönen unnötig, fiel ihr weich und glatt um das Gesicht. Die kleinen Sorgenfalten und die leichten Runzeln auf ihrer Stirn, die 15

    sich immer gezeigt hatten, wenn sie angestrengt nachdachte, waren verschwunden, sodass sie jünger aussah, als Nightingale sie in Erinnerung hatte. Die grausame Ironie, sie im Tod so jugendlich zu sehen, raubte ihr den Atem.
    Nur die vollen Lippen zeigten Spuren des Todes. Sie waren fest geschlossen und ganz blass, fast blau. Ein wenig Lippenstift hätte nicht geschadet, dachte sie, aber vielleicht wollte der Bestatter ihre natürliche Schönheit auch im Grab unangetastet lassen.
    Sie beugte sich herab und küsste ihre Mutter auf die Stirn, auf beide Augen und zuletzt, ganz sanft, auf den Mund, wie ein unbewusstes Kreuzzeichen. Dann richtete sie sich auf und ging zu ihrem Vater.
    Das Tuch ging ihm bis zum Kinn, sodass nicht zu erkennen war, was er anhatte. Seine Augen waren geschlossen, aber sie kannte die Farbe, das Glockenblumenblau eines klaren Sommerhimmels. Es stand nicht zu befürchten, dass sie je vergessen würde, wie sie aussahen, denn um sie wieder zu sehen, brauchte sie nur in den Spiegel zu schauen. Sein ganzer Kopf war mit blütenweißen Verbänden umwickelt, aus denen nur Augen, Nase und Mund hervorlugten. Trotzdem konnten sie nicht alle Wunden verbergen. Eine führte genau von der Mitte der Unterlippe in einer leuchtenden Diagonale in den Verband über dem Kinn. Eine weitere, sorgfältig ge-näht, begann außen an der linken Augenbraue, zog sich quer über die Stirn und verschwand in dem einzigen Büschel Haare, das auf seiner rechten Schläfe zu sehen war.
    Es war eine Frankensteinmonster-Naht, und der Anblick ließ sie vor Schock und unterdrückter Hysterie so heftig ki-chern, dass sie sich den Mund mit beiden Händen zuhalten musste. Dann verebbten die Geräusche zu einem leisen Wimmern, während sie auf den Leichnam blickte, der ihr 16

    Vater gewesen war. Es war so wenig von ihm zu sehen, dass sie sich fragte, warum der Sarg überhaupt offen gelassen worden war, aber sie war froh darüber.
    Sie hob eine Hand und streichelte ihm über den banda-gierten Kopf.
    »Ach Dad«, flüsterte sie, »so ein verdammtes Pech.«
    Dann küsste sie ihn sanft, wie zuvor ihre Mutter, wandte sich zum Gehen und kämpfte darum, die Fassung wiederzu-gewinnen. Es bestand kein Grund, länger hier zu bleiben.
    Was könnte sie noch tun? Als sie nach dem Ledervorhang griff, spürte sie ein Kribbeln auf der Haut zwischen den Schulterblättern. Eine verrückte Sekunde lang war sie sicher, dass ihre Eltern sich beide aufgesetzt hatten und sie ansahen, wünschten, dass sie sich noch einmal umdrehte, um ihr auf Wiedersehen zu sagen. Das Gefühl war so stark, dass sie einen Blick nach hinten warf. Die einzigen Augen waren die von Christus, der am Kreuz litt, voller Erbarmen und allein. Sie drehte sich wieder zur Tür, öffnete sie und ging hinaus.
    Draußen im Sonnenschein des Parkplatzes saß ihr Bruder auf einer Bank, das Gesicht grau, die Augen gerötet.
    »Das hat aber lange gedauert.« Er klang kleinlaut, verlegen, weil er es nicht fertig gebracht hatte, seine toten Eltern zu sehen.
    »Es waren jede Menge Formulare zu unterschreiben, aber jetzt ist alles erledigt.«
    »Ich konnte einfach nicht. Tut mir Leid.«
    »Ist schon gut, ehrlich.«
    »Waren sie, ich meine, die Särge …?«
    Auch er wusste um die gut gemeinte Warnung der italienischen Polizei.
    »Die Särge waren offen. Sie sahen beide sehr friedlich aus, als würden sie schlafen. Es war kein schrecklicher Anblick.«

    17

    Er drückte sie ganz fest, und sie spürte, wie ihre Kehle sich zuschnürte. Sie löste sich von ihm, konnte ihn nicht ansehen, aus Angst vor der Last der Tränen, die sie in sich spürte. Sie wusste, wenn sie ihnen freien Lauf ließe, würden sie so bald nicht wieder aufhören, als sei ein Damm gebrochen.
    »Komm, lass uns fahren. Ich könnte einen Drink vertragen.«
    Er ließ seinen Arm locker um ihre Schultern liegen und führte sie zum Wagen. Die Sonne brannte auf ihrem dunklen Kostüm, als sie langsam
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