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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo
Autoren: corley
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von der Leichenhalle weggingen, ihre Schatten hart auf dem grauen Kies.
    Bis heute war der Tod ihrer Eltern nicht real gewesen. Sie hatte die Formalitäten erledigt, die Flugtickets besorgt, die Sachen ihrer Eltern einpacken und zu sich ins Hotel schicken lassen. Selbst das Ausfüllen der Versicherungsformulare für die Überführung der Leichname nach Hause war eine willkommene Ablenkung gewesen. Jetzt musste sie sich noch um die Beisetzung kümmern und um die Grabsteine. Dann …
    Ihr Bruder schloss fest die Autotür, und sie schnallte sich an. Der Klang der zuknallenden Tür hatte eine Endgültigkeit, die in ihren Gedanken nachhallte. Das Leben würde nie wieder so sein wie zuvor. Ihre Eltern waren tot. Sie war eine Waise. Alles, was zwischen ihnen ungeklärt gewesen war, würde es für immer bleiben. Offene Möglichkeiten hatten sich in dem Sekundenbruchteil geschlossen, in dem ein Reifen platzte und ihr Wagen im hohen Bogen in die malerische Schlucht stürzte, an deren Anblick sie sich Augenblicke zuvor bestimmt noch erfreut hatten. An die Stelle einer möglichen Aussöhnung mit ihren Eltern war Reue getreten, Schuldgefühle würden die Leere füllen müssen, wo Erklärungen und Verzeihen irgendwann vielleicht das Verhältnis zwischen ihnen hätten flicken können. Alles, was sie einander noch hät-18

    ten bedeuten können, war mit ihren letzten Atemzügen erloschen.
    Das Gefühl vertaner Chancen war fast unerträglich. Für einen so selbstbewussten und beherrschten Menschen wie sie war die Erkenntnis der Machtlosigkeit erdrückend. Sie fühlte sich beschädigt, isoliert, außer Kontrolle. Das Leben würde nie wieder so sein wie zuvor.

    19

    TEIL EINS
    Ein Mann schämt sich nur selten dafür, dass er eine Frau nicht so recht lieben kann, wenn er eine gewisse Größe in ihr sieht: Die Natur hat Größe für die Männer vorgesehen.
    George Eliot

    Man kann mit dieser neuen Erfahrung sowohl im Weine als auch in der Frau eine Versuchung sehen. Man muss beiden Versuchungen
    widerstehen, und wenngleich man alle Frauen mit größter Höflichkeit behandeln sollte, ist doch jede Form von Vertraulichkeit zu meiden.

    Horatio Herbert Earl Kitchener of Khartoum and Broome 20

    Kapitel eins
    »Und?«
    Der Verteidiger beugte sich vor, die Nase ebenso spitz wie sein Tonfall, die Perücke in der Hitze seiner Attacke ver-rutscht. Nightingale bemühte sich um eine vernünftige Antwort, aber ihre Gedanken waren erstarrt. Das Einzige, woran sie sich erinnern konnte, war eine Bemerkung ihrer Mutter, als sie mal mit einer schlechten Note aus der Schule gekommen war: »Den Text vergessen, nicht zu fassen. Dein Bruder hätte uns nicht so blamiert.«
    Die Erinnerung raubte ihr jedes Selbstvertrauen, und sie spürte, wie ihre Bluse unter dem Kostüm schweißnass wurde.
    Sie holte tief Luft und presste die Finger fest gegen das Holz des Zeugenstandes. Seit vierzig langen Minuten wurde sie ins Verhör genommen. Ihre Aussage war entscheidend, da die Staatsanwaltschaft ansonsten nur Indizienbeweise hatte. Sie sagte sich, dass sie sich einfach nur an die Wahrheit zu halten brauchte, ohne sich von dem rüden Ton des Mannes einschüchtern zu lassen.
    »Wir warten, Sergeant.«
    »Ja.« Sie hustete, als würde sie sich räuspern, und fixierte einen Punkt direkt über seiner rechten Schulter.
    »Ja. Was?«
    Nightingale straffte die Schultern, hoffte, dass es nicht aggressiv wirkte, sondern höflich, wie aus Respekt vor seiner Rolle. Sie wusste, wie sich erfolgreiche Zeugen verhielten: 21

    entschlossen, selbstsicher, aber nicht anmaßend. Sie war Poli-zeibeamtin, und die Geschworenen würden zuerst ihren Beruf und dann den Menschen sehen. Sämtliche Vorurteile, die sie mit in den Gerichtssaal gebracht hatten, würden sich auf die Interpretation von allem, was sie sagte, auswirken. Wenn sie als Kinder dazu erzogen worden waren, Vertrauen zur Polizei zu haben, dann würden sie ihr glauben wollen. Wenn sie Polizisten für korrupt und voreingenommen hielten, wür-de alles, was sie sagte, auf Skepsis stoßen. Für sie alle musste sie Louise Nightingale sein, die Opfer eines Vergewaltigungsversuchs geworden war.
    »Könnten Sie Ihre Frage bitte wiederholen?« Ihre Stimme war wieder ruhig.
    »Meine Frage lautete, wie Sie mit dem Angeklagten in Kontakt gekommen sind, und bisher haben Sie trotz der wiederholten Bitte um Präzisierung lediglich gesagt, Sie hätten auf eine E-Mail geantwortet, die dazu geführt habe, dass Sie Nachrichten in einem Chat-Room
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