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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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vorstellen, wie enthemmt wir hier einst sein konnten, weil wir uns so sicher fühlten.
          »Es gab keinen Paukenschlag, es passierte kein großes Wunder, bei dem ich nur die Augen schließen musste, um in der Freiheit zu erwachen. Ich wurde am nächsten Morgen aus der Zelle gerufen, der alte Mann schnarchte wieder, hatte aber jetzt im Schlaf die Wolldecke über sich gezogen. Im Büro der Gefängnisleitung gab man mir meine Entlassung bekannt und schickte mich in die herbeigesehnte Freiheit. Es folgen die üblichen Prozeduren, die Gefängniskleidung gab ich ab, meine persönlichen Sachen erhielt ich zurück. Ich musste darauf vertrauen, dass es meine waren. Erkannt habe ich sie nicht. Die Hosen und Hemden passten, das Foto auf dem Ausweis sah in etwa so aus wie das Bild im Spiegel, der Name darauf, der sich gestickt auch in der Kleidung befand, aber war mir unbekannt. Ich stand vor dem Gefängnis, wusste nicht, wohin. Vielleicht zu …« Erneut der suchende Blick, diesmal durch den Raum, erneut das Schütteln, das den Körper erfasst, etwas ungläubiges Staunen. »An den Namen kann ich mich nicht erinnern.» Kurz überlegt er, sammelt den Faden wieder auf. »Vielleicht zu dem Jungen, dessentwegen ich ins Gefängnis kam. Jedenfalls sehnte ich mich vor dem Tor nach Liebe. Ich war so oft gefickt worden, doch ich sehnte mich nach Berührung, nach Haut. Die Mauern ragten monströs hinter mir auf. Das Tor zum Gefängnis lag, wie mein Fenster darin, Richtung Norden. Es war Mittag, die Mauern warfen dunkle Schatten, denen ich entfliehen musste, also ging ich ziellos davon, ohne die Freiheit genießen zu können. Langsam sickerte eine Adresse in meinen Kopf, ein Ort, an den ich nicht nur gehen konnte, sondern musste. Er war mir unbekannt. Das war der gestickte Name in meinen Hemden auch. Es würde mein Zuhause sein, das mich rief, meine Eltern würden auf mich warten, ich würde sie erkennen und in der Freiheit ankommen. Vermutlich hatte nur der Gefängnisaufenthalt mich verwirrt.
          Man müsse der inneren Stimme folgen heißt es doch, oder? Das tat ich. Und kam …« Er blickte sich um, sah auf die Regale hinter dem Tresen, die Bierhocker, die grün gestrichenen Türen, die zu den Zimmern hinauf und zur Küche führten. »… zum ersten Mal in dieses Haus. Es war leer und verschlossen. Wie selbstverständlich entnahm ich den Schlüssel der kleinen Klappe neben der Regenrinne, stellte nicht infrage, woher ich davon wusste, heizte, bediente mich an den Vorräten, besorgte neue, hackte neues Holz, bis mir die Einsamkeit auf die Nerven ging. Ich zog durch die Städte, lernte Männer kennen, versteckte mich mit ihnen in den Gebüschen der Parkanlagen und vergaß sie schon beim Orgasmus. Immer hatte ich genug Geld in der Tasche, mir etwas zu essen zu kaufen, immer genug, mir in einer Pension für die Nacht ein Zimmer nehmen zu können. Ich war frei. Doch die Freiheit war öd und leer. Keine Verbindung zu spüren, keine Verpflichtung zu haben, nicht gebraucht zu werden, strengte an. Bei einem Rummel fand ich Arbeit, die ich nur gesucht hatte, um abends zu wissen, was ich tagsüber getan hatte, um Kollegen zu finden, die sich meiner erinnerten, weil sie mich brauchten, die auf mich angewiesen waren. Das war das Schlimmste. Niemand verließ sich auf mich. Wie unsichtbar durchschlüpfte ich alles. Wenn die Polizei Razzien in den verrufenen Bars durchführte, um Homosexuelle aufzuspüren, konnte ich das Lokal verlassen, ohne dass jemand Notiz von mir nahm. Als ich mich vor lauter Leere beim Militär registrieren lassen wollte, blieb ich auf der Bank sitzen. Eine Frau kam herein, sah sich um, fragte, ob da noch jemand wäre oder sie jetzt schließen könnte. Sie sah mich nicht, hörte meine Antwort nicht, spürte nicht, als ich ihren Arm festhielt.« Darius richtet sich auf, lacht, geht zum Buffet, das sich während seiner Erzählung verändert hat. Er öffnet die Deckel der silbernen Töpfe, die auf den Wärmeplatten stehen, sieht hinein, riecht hinein, entscheidet sich, bringt mir und sich eine Schale mit Tomatensuppe mit an den Tisch. »Hey, sagt er. Ich bin unsterblich. Sie hätten mich in den Krieg ziehen lassen sollen.«
          Leicht zieht der Duft von Gin aus der Suppe über den Tisch, ich beuge mich nach vorne, probiere. Estragon, ein Hauch Sahne und etwas Chili perlen über meine Zunge, die Früchte müssen richtig reif gewesen sein, so viel Geschmack.
          »Wusstest du damals schon davon?«
        
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