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Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde

Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde

Titel: Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Autoren: Andrea Camilleri
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Abwehr aufzuweichen und alles über sie und ihr Verhältnis zu dem Betrüger und Mörder Ema­nuele Gargano zu erfahren.
    »Was tut denn weh?«, fragte Montalbano und ließ den Motor an.
    »Die eine Seite und die Schulter. Aber das kommt von dem Sturz.«
    Sie wollte sagen, dass das Auto ihr nur einen heftigen Stoß versetzt und sie damit zu Fall gebracht hatte. Der schlimme Sturz auf das Straßenpflaster hatte ihr Scha­den zugefügt, aber keinen schweren - wenn sie am folgen­den Morgen aufwachte, würden die Seite und die Schulter hübsch grünlich blau sein. »Sagen Sie mir, wie ich fahren muss.« Mariastella führte ihn aus Vigàta hinaus, auf einer Straße, an der rechts und links keine Häuser, sondern vereinzelt wenige alte Villen standen, von denen manche verlassen waren. Der Commissario war noch nie dort gewesen, da war er sicher, denn er staunte über eine Gegend, die vor der Zeit der Bauspekulation und wilden Zubetonierung stehen geblieben schien. Mariastella war das Staunen des Commissario nicht entgangen.
    »Die Villen, die Sie hier sehen, wurden alle in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gebaut. Es waren die Landhäuser reicher Bürger aus Vigàta. Wir haben Mil­liardenangebote abgelehnt. Meines ist das dort.« Montalbano hob den Blick nicht von der Straße, aber er wusste, es war ein großes, fast quadratisches Holzhaus, das, ehemals weiß, mit Kuppeln und Spitztürmchen und ver­schnörkelten Balkonen im überladen eleganten Stil der Sieb­zigerjahre verziert war…
    Schließlich hob er den Blick, sah es an, es war so, wie er es sich vorgestellt hatte, nein, das Haus deckte sich sogar vollkommen, wie ein Abziehbild, mit der Vorstellung, die ihm eingeredet worden war. Aber eingeredet von wem? Konnte es sein, dass er dieses Haus schon einmal gesehen hatte? Nein, bestimmt nicht.
    »Wann wurde es gebaut?«, fragte er und fürchtete sich vor der Antwort.
    »1870«, sagte Mariastella.

Sechzehn
    »Im oberen Stock war ich schon seit Jahren nicht mehr«, sagte Mariastella, während sie das massive Portal öffnete. »Ich habe mich im Erdgeschoss eingerichtet.« Der Commissario bemerkte die massiven Gitter vor den Fenstern. Im Obergeschoss waren die Fenster mit Läden verschlossen, die Farbe war längst undefinierbar, und viele Leisten fehlten. Der Verputz war stellenweise abgebrö­ckelt.
    Mariastella wandte sich um.
    »Wenn Sie einen Augenblick hereinkommen wollen…«
    Die Worte waren eine Einladung, aber die Augen der Frau sagten genau das Gegenteil, sie sagten:
    Um Himmels willen, verschwinde, lass mich allein, lass mich in Ruhe.
    »Gern«, sagte Montalbano.
    Und trat ein. Sie gingen durch eine schmucklose, große dunkle Diele, von der eine Treppe zu noch dunkleren Schat­ten emporführte. Es roch nach Staub und unbenutzten Räu­men - ein dumpfiger, modriger Geruch. Mariastella führte ihn in einen Salon mit schweren Ledermöbeln. Diese Art Alptraum, der ihm schon zugesetzt hatte, als er die Erzäh­lung von Signora Clementina hörte, wurde jetzt immer beklemmender. In seinem Kopf sagte eine unbekannte Stimme: »Jetzt such das Bild.« Er gehorchte. Er blickte ringsum und sah es neben einem Regal stehen, ein Pastell­bildnis auf einer schwarz angelaufenen, vergoldeten Staffe­lei, ein alter Mann mit Schnurrbart.
    »Ist das Ihr Vater?«, fragte er, und die Antwort wusste und fürchtete er zugleich. »Ja«, sagte Mariastella.
    Da begriff Montalbano, dass er nicht mehr zurückkonnte, dass er noch weiter in diese unerklärliche dunkle Zone vordringen musste, die zwischen der Wirklichkeit und dem lag, was sein eigener Kopf ihm einredete, eine Wirk­lichkeit, die entstand, während er sie dachte. Er spürte, dass er plötzlich Fieber hatte, es stieg von Minute zu Minute. Was geschah da mit ihm? Er glaubte nicht an Hexerei, aber in diesem Augenblick brauchte er viel Ver­trauen in die eigene Vernunft, um nicht daran zu glauben, um mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu bleiben. Er merkte, dass er schwitzte.
    Es war ihm schon passiert, wenn auch selten, dass er einen Ort zum ersten Mal sah und das Gefühl hatte, schon dort gewesen zu sein, oder dass er Situationen wieder erlebte, die er vorher erlebt hatte. Aber jetzt handelte es sich um etwas vollkommen anderes. Die Worte, die ihm in den Sinn kamen, hatte niemand zu ihm gesagt, niemand hatte sie ihm erzählt, keine Stimme hatte sie ausgesprochen. Nein, jetzt war er überzeugt, dass er sie gelesen hatte. Und diese geschriebenen Worte hatten ihn so
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