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Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde

Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde

Titel: Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Autoren: Andrea Camilleri
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nehme den Bus. Und wenn du dann nach Hause kommst, bin ich schon da.«
    »Also gut.«
    »Sieh zu, dass du früh kommst, nicht wie sonst immer. Ich habe solche Lust, mit dir zusammen zu sein.«
    »Wieso, ich vielleicht nicht?«
    Unwillkürlich wanderte sein Blick zum Schrank, auf dem der Pullover lag. Am Morgen musste er ihn vergraben, bevor er ins Kommissariat fuhr. Und wenn Livia ihn fragte, wo ihr Geschenk hingekommen sei? Er würde überrascht tun, und am Ende würde Livia Adelina ver­dächtigen, die sie nicht ausstehen konnte, was auf Gegen­seitigkeit beruhte. Dann holte er, fast ohne es zu merken, einen Stuhl, stellte ihn an den Schrank, kletterte darauf, tastete mit der Hand, bis er den Pullover gefunden hatte, ergriff ihn, stieg vom Stuhl herunter, stellte ihn an sei­nen Platz zurück, packte den Pullover mit beiden Händen, brachte mit Mühe einen Riss hinein, zerrte mit den Zäh­nen daran, machte ein, zwei, drei Löcher, bewaffnete sich mit einem Messer, stieß es fünf- oder sechsmal hinein, warf ihn auf den Boden, trampelte auf ihm herum. Ein richtiger Mörder im Blutrausch. Schließlich ließ er ihn auf dem Küchentisch liegen, damit er nicht vergaß, ihn am nächsten Morgen zu vergraben. Und plötzlich fühlte er sich zutiefst lächerlich. Warum hatte er sich von dieser dummen, maßlosen Wut hinreißen lassen? Vielleicht, weil er den Pullover völlig verdrängt hatte und dann so heftig mit der Nase darauf gestoßen worden war? Jetzt, wo er sich abreagiert hatte, fand er sich nicht nur lächer­lich, er empfand auch so etwas wie melancholische Ge­wissensbisse. Arme Livia, sie hatte den Pullover mit so viel Liebe gekauft und ihm geschenkt! Da fiel ihm ein absurder, ein unmöglicher Vergleich ein. Was würde Si­gnorina Mariastella Cosentino wohl mit einem Pullover anstellen, den Gargano ihr geschenkt hätte, der Mann, den sie liebte? Nein, den sie vergötterte. So sehr, dass sie nicht sah oder nicht sehen wollte, dass der Ragioniere nichts weiter war als ein Schuft und Betrüger, der mit dem Geld geflüchtet war und, um es nicht teilen zu müssen, kalt­blütig einen Mann getötet hatte. Sie würde es nicht glau­ben oder es verdrängen. Warum hatte sie keine Reaktion gezeigt, als er den armen Geometra Garzullo beruhigen wollte und einfach behauptet hatte, im Fernsehen habe es geheißen, Gargano sei festgenommen worden? Sie besaß keinen Fernseher, es lag also irgendwie nahe, dass sie Montalbano glaubte. Aber da kam nichts, keine Regung, nicht einmal ein Zucken, ein Seufzer. Ganz ähnlich hatte sie sich auch verhalten, als er ihr mitteilte, man habe Pellegrinos Leiche gefunden. Sie hätte in Verzweiflung geraten müssen, weil zu vermuten war, dass dem vergöt­terten Ragioniere das gleiche Schicksal beschieden war. Doch auch diesmal war es fast genauso gewesen. Er hatte mit etwas gesprochen, das einer Statue mit aufgerissenen Augen sehr ähnlich war. Signorina Mariastella Cosentino benahm sich, als ob…
    Das Telefon klingelte. War denn das die Möglichkeit, dass man in diesem Haus einfach nicht in Ruhe einschlafen konnte? Spät war es auch, fast eins. Fluchend nahm er den Hörer ab.
    »Pronto? Wer ist da?«, fragte er mit einer Stimme, die einen Räuber in den Bergen erschreckt hätte.
    »Habe ich dich geweckt? Hier ist Nicolo.«
    »Nein, ich war noch wach. Gibt's was Neues?«
    »Nein, aber ich wollte dir was erzählen, was deine Laune heben wird.«
    »Das kann ich gebrauchen.«
    »Weißt du, was für eine Theorie Staatsanwalt Tommaseo im Interview mir gegenüber geäußert hat? Dass nicht die Mafia die beiden getötet hat, wie Guarnotta behaup­tet.«
    »Wer war es dann?«
    »Tommaseos Meinung nach ein Dritter, ein eifersüch­tiger Mann, der sie in flagranti erwischt hat. Was hältst du davon?«
    »Sobald ein bisschen Sex ins Spiel kommt, geht Tomma­seos Fantasie mit ihm durch. Wann sendest du das?«
    »Gar nicht. Als der leitende Staatsanwalt davon erfuhr, rief er mich an. Es war ihm peinlich, dem Ärmsten. Und ich habe ihm mein Wort gegeben, dass ich das Interview nicht sende.«
    Montalbano las knapp drei Seiten Simenon, aber so sehr er sich auch anstrengte, mehr ging nicht, er war zu müde. Er löschte das Licht und tauchte gleich in einen ziemlich unangenehmen Traum ein. Er war wieder unter Wasser, neben Garganos Auto, und sah im Wageninneren Giacomos Leiche, die sich wie ein schwereloser Astronaut, fast wie im Tanz bewegte. Dann hörte er einen Stimme von der anderen Seite des Felsens.
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