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Commissaire-Llob 1 - Morituri

Commissaire-Llob 1 - Morituri

Titel: Commissaire-Llob 1 - Morituri
Autoren: Yasmina Khadra
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voran-
    treibt, ist einzig der Wunsch, der Nation in den
    Hintern zu treten, damit diese nicht in ihrer eigenen
    Scheiße einschläft.“
    Ich weiß nicht, was plötzlich über mich kommt.
    Die Wut, die mir zuvor geholfen hatte, die Angst
    des Wartens zu überstehen, die Gedanken und
    Worte, die mich auf dem Diwan noch angestachelt
    hatten, sind plötzlich verpufft, wie fortgeblasen,
    und lassen in mir eine große Leere zurück. Der
    Dreckskerl macht mir Angst. Sein Blick schüchtert
    mich ein, am liebsten würde ich mich unter die
    Erde verkriechen. Es fehlte nicht viel und ich näh-
    me, sobald er die Hand hebt, die Beine unter den
    Arm, ohne mich auch nur einmal umzusehen. Die-
    ses Scheusal, dieses Ungeheuer, hat uns dreißig
    Jahre lang wie Sachen behandelt. Ich kann kaum
    glauben, daß ich noch immer aufrecht vor ihm ste-
    he.
    Und er redet und redet in einem fort … In mei-
    nem Kopf brodelt es. Vereinzelt blitzen hier und da
    Satzfetzen auf, gehen unter, kommen wieder hoch:
    „Jedes Land braucht eine Krise, um sich zu er-
    neuern. Natürlich gibt es Scherben. Doch was ist
    eine Handvoll Märtyrer schon gegen eine Wieder-
    geburt? Sozusagen eine Notwendigkeit. Es stärkt
    den Glauben an die Heimat und bereitet auf die
    Opfer von morgen vor. (…) Die einzigen Aufga-
    ben, die dem Volk zufallen, sind die Wahlen und
    der Krieg. (…) Sie sind ein Idealist, Monsieur
    Llob. Sie haben eine utopische Vorstellung vom
    Patriotismus. Überhaupt sind Sie selbst völlig ob-
    solet. (…) Die Welt wandelt sich nach Maßgabe
    ihrer Bedürfnisse. Die Nation wird fortan nur nach
    dem beurteilt, was sie dem einzelnen bringt. Das ist
    ihre einzige Chance, ihre Überlebensgarantie. Heu-
    te schindet sich unser Land bis aufs Blut, um mit
    einem Kaiserschnitt das neue Algerien zu gebären,
    das Algerien von morgen – modern, stark, ehrgei-
    zig. 1954 hatten wir einen schlechten Start. Unsere
    Revolution war ein einziges Fiasko. Der Beweis:
    nichts als Regression, Totalitarismus und Mittel-
    maß nach dreißig Jahren Unabhängigkeit. Dieser
    Krieg ist kein Fluch. Er ist ein unverhoffter
    Glücksfall, eine unerhörte Chance, ein Wink der
    Vorsehung. Wir stellen uns ihm. Wir führen ihn. Er
    ist unsere Visitenkarte, der Preis, den wir zahlen,
    damit man uns nicht von der neuen Weltordnung
    ausschließt. Wer von der Karikatur eines sozialisti-
    schen Systems auf den offenen Weltmarkt drängt,
    hat den Tribut zu entrichten. Und das machen wir
    gerade. Wir werden ein Land aufbauen, das es ver-
    steht, seine Chancen auszuhandeln, ohne sich
    kleinmachen zu müssen, denn Zugeständnisse ma-
    chen wir schon genug durch diesen Krieg.“
    Er weist auf die Tür, herrscht mich an zu ver-
    schwinden und entfernt sich.
    „Ich hasse es, jemanden in den Rücken zu schie-
    ßen“, warne ich ihn.
    Er hat die Hand schon am Geländer, dreht sich zu
    mir um, betrachtet meine Waffe und bricht in
    schallendes Gelächter aus.
    „Jetzt sind Sie vollkommen übergeschnappt,
    Kommissar.“
    Ich höre mich stammeln: „Es gibt, wie es heißt,
    drei Instanzen, die über die Menschen urteilen,
    Monsieur Ghoul. Das Gewissen, die Justiz und
    Gott. Die ersten zwei können sich irren, die dritte
    Instanz jedoch nie. Der werden Sie jetzt vorge-
    führt.“
    Seine Züge verblassen mit einem Mal. Sein Ge-
    sicht wird aschfahl, seine Lippen wirken wie aus-
    gedörrt.
    „Das meinen Sie doch nicht im Ernst, Kommis-
    sar! Sie sind Polizist. Sie haben nicht das Recht
    dazu.“
    „Ich fürchte, es ist das letzte Recht, das mir noch
    geblieben ist.“

    Als ich wieder zu mir komme, merke ich, daß ich
    noch immer wie ein Rasender auf den Abzug drü-
    cke, während der Lauf meiner Waffe schon wieder
    abgekühlt ist.

    Nachwort

    Nous avons pris un mauvais départ dès 1954. Notre révolution était un fiasco (Wir hatten 1954 einen schlechten Start. Unsere Revolution war ein einziges Fiasko). So bewertet Ghoul Malek in Morituri die Errungenschaften des algerischen Unabhängig-keitskampfes und bringt damit gleichzeitig zum Ausdruck, daß die Wurzeln des blutigen Konflikts in Algerien weit in die Geschichte des Landes zurückreichen und sich die gegenwärtige Situation nur aus dem komplexen Zusammenspiel von histori-schen, wirtschaftlichen, religiösen und politischen Fakten und Interessen verstehen läßt.
    Nachdem der junge Staat 1962 seine Unabhängigkeit von
    Frankreich erlangt hatte, waren die folgenden Jahrzehnte von der Alleinherrschaft des FLN ( Front de
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