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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M.
Autoren: Eiserne Zeit
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Welt kommt, das Antennenkabel, das Musik
von den Sternen hereinholt.
    Fernsehen.
Warum schaue ich mir das an? Die Parade der Politiker jeden Abend. Ich brauche
sie nur anzusehen, die feisten, leeren Gesichter, die mir seit der Kindheit so
vertraut sind, und schon erfassen mich Trostlosigkeit und Ekel. Die Rüpel in
der letzten Reihe der Schulbänke, grobknochige, klotzige Knaben, die jetzt
erwachsen und aufgestiegen sind, um das Land zu regieren. Sie mit ihren Vätern
und Müttern, ihren Onkel und Tanten, ihren Brüdern und Schwestern: ein
Heuschreckenschwarm, eine Plage schwarzer Heuschrecken, die über das Land
herfallen, unablässig schmatzend, Leben verschlingend. Warum schaue ich sie mir
an, erfüllt von Grauen und Abscheu? Warum lasse ich sie ins Haus? Weil die
Herrschaft der Heuschreckenfamilie die Wahrheit Südafrikas ist, und die
Wahrheit das ist, was mich krank macht? Die Mühe, Rechtmäßigkeit zu
beanspruchen, machen sie sich nicht mehr. Vernunft haben sie mit einem
Achselzucken abgetan. Was sie gänzlich in Anspruch nimmt, ist Macht und die
Starre der Macht. Essen und reden, Leben verschmatzen, rülpsen. Langsames,
fettleibiges Gerede. In einem Kreis sitzen, gewichtig debattieren, Verordnungen
erlassen wie Hammerschläge: Tod, Tod, Tod. Unbekümmert durch den Gestank.
Schwere Augenlider, schweinische Augen, schlau mit der Schläue von Generationen
von Bauern. Auch gegeneinander konspirierend: langsame Bauernkonspirationen,
die generationenlang reifen. Die neuen Afrikaner, dickwanstige, feistwangige
Männer auf ihren Bürohockern: Cetshwayo, Dingane in weißer Haut. Nach unten
drückend: ihre Macht in ihrem Gewicht. Gewaltige Stierhoden, die auf ihre
Weiber, ihre Kinder hinunterdrücken, den Funken aus ihnen hinausdrücken. Der
Funke des Feuers in ihren eigenen Herzen erloschen. Träge Herzen, fett wie
Blutwurst.
    Und ihre Botschaft Stuß:
stumpfsinnig gleichbleibend, stumpfsinnig immerzu dieselbe, stur. Nach
jahrelangem Ausloten der Etymologie des Wortes – ihre Großtat: den Stumpfsinn
zu einer Tugend erhoben zu haben. Abstumpfen, des Gefühls berauben; benommen
machen, betäuben; durch Verblüffung lähmen; starr vor Staunen machen. Stupor:
Empfindungslosigkeit, Apathie, Erstarrung des Geistes. Stupide: eingeschränkt
in den Fähigkeiten, gleichgültig, bar des Denkens oder Fühlens. Von stupere,
to be stunned, astounded. Eine Steigerung, ein Gefälle von stupid zu stunned zu astonished, zu Stein geworden. Die Botschaft: daß die
Botschaft sich nie ändert. Eine Botschaft, die aus Menschen Steine macht.
    Wir schauen
hin, wie Vögel Schlangen anschauen. Fasziniert von dem, was uns gleich
verschlingen wird. Faszination: das, womit wir unserem Tod huldigen. Zwischen
acht und neun Uhr abends versammeln wir uns, und sie zeigen sich uns. Eine
rituelle Kundgebung, wie während Francos Krieg die Prozessionen der Bischöfe im
vollen Ornat. Eine Thanatophanie: unseren Tod uns zeigend. Viva la muerte! ihr
Schrei, ihre Drohung. Tod den Jungen. Tod dem Leben. Keiler, die ihre
Frischlinge fressen. Der Keilerkrieg.
    Ich sage
mir, daß ich mir nicht die Lüge anschaue, sondern den Raum hinter der Lüge, wo
die Wahrheit sein sollte. Aber ist das wahr?
    Ich döste (ich schreibe
noch immer über gestern), las, döste wieder. Ich machte Tee, legte eine
Schallplatte auf. Takt für Takt richteten die Goldberg-Variationen sich auf in
der Luft. Ich ging zum Fenster. Es war fast dunkel. An der Garagenwand hockte
der Mann, rauchend, das Aufglühen der Zigarette als rötlicher Punkt. Vielleicht
sah er mich, vielleicht nicht. Gemeinsam hörten wir zu.
    In diesem
Moment dachte ich: Wie er sich jetzt fühlt, weiß ich so sicher, als würden er
und ich Liebe machen.
    Obwohl er ungebeten kam,
obwohl er mich mit Abscheu erfüllte, zog ich den Gedanken in Betracht, ohne
eine Miene zu verziehen. Er und ich, Brust an Brust gedrückt, mit geschlossenen
Augen, wie wir die alte Straße hinuntergehen. Unwahrscheinliche Gefährten. Wie
eine Busfahrt in Sizilien, frontal zusammengedrückt, Leib an Leib mit einem
fremden Mann. Vielleicht wird so das Nachleben sein: nicht eine Hotelhalle mit
Sesseln und Musik, sondern ein großer überfüllter Bus unterwegs von nirgendwo
nach nirgendwo. Nur Stehplätze: für immer auf den Füßen, gegen Fremde
gequetscht. Die Luft dick, verbraucht, voller Seufzer und Gemurmel: Pardon,
Pardon. Promiskuöser Kontakt. Für immer unter dem Blick anderer. Schluß mit
Privatleben.
    Auf der
anderen Seite des Hofes
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