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Coco - Ausbildung zur 0

Coco - Ausbildung zur 0

Titel: Coco - Ausbildung zur 0
Autoren: Ana Riba
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die fehlende Bereitschaft der Bedienung, sich ihr Trinkgeld redlich zu verdienen. Das Restaurant war klein und heimelig eingerichtet. Außer Coco saßen noch zwei weitere Personen an den Tischen in dem kleinen Gastraum, und sie schätzte, dass die beiden Männer Außendienstmitarbeiter waren. Einer erregte ihre Aufmerksamkeit – nicht aufgrund seines Aussehens, sondern weil sie meinte, diesen Bart schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Eine leichte Gänsehaut krabbelte ihren Rücken hinunter, und nach ein paar Minuten schalt sie sich selbst eine Idiotin, denn sie wusste, dass auch noch andere Männer als Xavier einen solchen Bart trugen. Schließlich widmete sie sich ihrem Essen. Selbst hier schien er sie zu verfolgen.
    Nachdem Coco wieder aufgebrochen war, schlängelte sich die Landstraße durch sanfte grüne Hügel, und hier und da fuhr sie durch kleine Ortschaften, die aus nicht mehr als einem oder zwei Häusern bestanden. Die Sonne schien, und am blauen Himmel war nicht ein Wölkchen zu sehen. Der perfekte Tag. Während Coco die Landschaft mit ihren Farben in sich aufsaugte, schob sich Xaviers Gesicht in ihre Erinnerung. Seit fünf Jahren war sie seine Vertraute, sein Schatten bei allem, was er tat. Und ja, wenn sie ehrlich zu sich war, dann war sie auch einmal in ihn verliebt gewesen. Ganz am Anfang. „So, wie es sich für eine ‚gute Assistentin‘ gehört“, dachte sie schmunzelnd.
    Sie mochte seine Art, mit Menschen umzugehen, wie er sich für sie und ihre Werke begeistern konnte. Mit kindlichem Enthusiasmus saugte er alles Neue in sich auf, und wenn ihn einmal etwas begeistert hatte, dann war er kaum davon loszueisen. Es hatte lange gedauert, bis Coco ihn durchschauen konnte, seine kleinen Geheimnisse entdeckte. Wie etwa, dass er der schludrigste Mensch war, der ihr je untergekommen war. Coco liebte seine kleinen Ticks und Macken, die er doch so sehr versuchte unter dem Deckmantel des Mäzens zu verstecken. Xavier war einer der letzten Gentlemen in diesem Geschäft. Er selbst war nicht wirklich schön zu nennen. Nein, nicht einmal besonders gutaussehend: groß, schlank, ein wenig dünnhäutig und blass, und sein Bart, der an ein Porträt von Ludwig II. erinnerte, unterstrich seine eher zart und gebrechlich wirkende Gestalt. Seine Haare standen trotz guter Pflege mit wüsten Locken von seinem Kopf ab und, ob es eine Frage des Alters oder der Eitelkeit war – er ließ sich diesen Schopf nicht kürzen. Eines seiner Markenzeichen war der „genervte Griff“ in die Haare, um die Pracht auf seinem Kopf wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Sinnlos, wie Coco grinsend bemerkte. Doch diese „Macke“ ließ den Meister der schönen Künste mehr als menschlich erscheinen. Da es kaum Fotos von Xavier gab, waren die meisten Menschen, die er in seiner Galerie kennenlernte, eher negativ erstaunt denn erfreut, in ihm ihren Türöffner zur großen bunten Welt der Berühmtheiten gefunden zu haben.
    Aber die Art, wie er die Menschen umsorgte und sie sich gut fühlen ließ, machte aus ihm einen wunderschönen Menschen. Seine Stimme, sein Auftreten, seine Aufmerksamkeit – all dies formte einen Mann, der in sich ruhte und von innen heraus strahlte. Wenn es Entscheidungen zu treffen gab, war da kaum jemand, der es wagte, Xavier zu widersprechen. Sein Umfeld wusste um seine Präsenz. Als Chef einer der renommiertesten Galerien der Welt durfte er sich einige Spleens leisten. Aber jeder, der ihn kannte, nahm diese Spinnereien mit Humor und der gehörigen Portion Sympathie für diesen Mann hin. Wenn sich Xavier für eine Person interessierte, dann konnte sich dieser Jemand sicher sein, die volle Aufmerksamkeit zu erhalten. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an welchem Xavier das Interesse verlor, weil er feststellte, dass dieser Künstler eben auch nur ein Mensch und kein Gott war und somit genauso banal wie die meisten anderen auch. Eine Enttäuschung, mit der Xavier immer wieder leben musste, die ihn die Suche jedoch nicht beenden ließ.
    Am Anfang ihrer seltsamen Beziehung war Coco also von diesem Mann fasziniert gewesen. Es war so aufregend, neben ihm zu stehen und dazuzugehören. Ein Teil seiner Maschinerie zu sein. Die Form der Macht, die er über seine Künstler besaß, empfand sie als äußerst erregend. Viele Nächte lang spielte Xavier damals in ihren Träumen eine tragende Rolle. Manchen Orgasmus, den sie sich in ihrer Einsamkeit gönnte, hatte sie indirekt ihm zu verdanken. Aber diese Zeiten waren längst vorbei.
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