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Ciara

Ciara

Titel: Ciara
Autoren: Nicole Rensmann
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sich weg. So schnell es die übergroßen Schuhe ermöglichten, lief sie den Flur entlang und auf die Straße.
     
    Paul Philis blickte ihr nach, selbst dann noch, als sie sich schon längst außerhalb seiner Sichtweite befand.
    »Paul? Hallo! Doktor Philis? Hey Paul, träumst du?«
    Er blinzelte sich zurück an seinen Arbeitsplatz. »Nein, ich habe nachgedacht. Was gibt’s denn, Mike?«
    Der junge Mann, der nur noch wenige Monate seines Medizinpraktikums zu absolvieren hatte, hielt eine Kette hoch: »Die muss Frau Duchas vergessen haben. Ich hatte sie vom Blut gereinigt und ihr in den Nachttisch gelegt. Was machen wir damit? Schönes Stück übrigens. Passt zu seiner sexy Besitzerin.«
    Paul überhörte Mikes anzügliche Bemerkungen und überlegte, hinter Frau Duchas herzurennen, entschied sich aber dagegen, nahm die Kette an sich und erklärte, während er an Mike vorbei in sein Büro ging: »Sie kommt morgen zur Untersuchung, dann gebe ich sie ihr zurück.«
     
    Er schloss die Tür hinter sich und sackte müde in seinen abgewetzten Ledersessel, lehnte sich darin zurück, schloss die Augen für wenige Sekunden und atmete tief durch. Noch zwei Stunden, bis auch diese Doppelschicht zu Ende gehen würde. Er setzte sich auf, legte die Hände auf den grau furnierten Schreibtisch und wollte sich das Schmuckstück näher anschauen, das Ciara zurückgelassen hatte. Da klopfte jemand an die Tür. Paul bat den Besucher herein. Eine Krankenschwester schob ihren Kopf durch den größer werdenden Türspalt: »Entschuldigen Sie, Dr. Philis, aber auf den Entlassungspapieren fehlt das Kürzel des Psychiaters. Oder haben Sie keinen hinzugezogen?«
    »Ich werde das im Bericht ausführlich darlegen. Frau Duchas ist eine starke Persönlichkeit. Nach meinem Empfinden war kein Psychiater nötig.«
    »Ich widerspreche Ihnen nur ungern, aber sie hat ein wirklich dramatisches Erlebnis hinter sich.«
    »Das ist mir bewusst.«
    Die Schwester nickte und ließ Paul allein, der sich wieder dem Schmuckstück widmete.
    An der silbernen Kette hing ein Amulett vom Durchmesser eines Teelichts, auf dessen Rückseite sich eine Gravur abzeichnete: Keltische Ogam-Schriftzeichen betteten einen auf zwei von fünf Spitzen stehenden Stern ein, dessen Seitenlinien sich ineinander verschlangen.
    Ein Schutzpentagramm, das dunkle Mächte und negative Einflüsse abwehren sollte.
    Sein Herz schlug schneller, als er den Anhänger umdrehte: Der darin eingefasste Mondstein schimmerte in der gleichen Farbe wie Ciaras hellblau marmorierte Augen.
     
    Schutzlos und nackt rannte sie durch die Dunkelheit ihres auf grauen Wolken erbauten Traumes – kreuz und quer schlug sie Haken wie ein Kaninchen, als müsse sie einen Verfolger abschütteln. Steine und Splitter von abgebrochenen Ästen schnitten ihr in die bloßen Füße. Nirgends entdeckte sie einen Baum oder ein Tier, selbst einen Mond gab es nicht in dieser düsteren, schwarzweißen Nacht. Sie weinte vor Einsamkeit und Angst.
    Doch da, weit entfernt, nahm sie einen Schatten wahr: die schlanke Silhouette eines Menschen – eines Mannes –, dessen kantiges Gesicht ihr zugewandt war und der ihr eine Hand entgegenstreckte. Sie sehnte sich danach, auf ihn zuzugehen und die Vertrautheit, die diese Geste aussandte, entgegenzunehmen. Doch obwohl sie vorwärtslief, vergrößerte sich die Distanz und die schwarze Gestalt wurde kleiner, bis sie vollkommen aus Ciaras Blickfeld verschwand. »Wo bist du? Warum lässt du mich jetzt allein?«
     
    Sie weinte im Schlaf. Bis zum Morgengrauen suchte sie in ihren sonst so lebhaften und bunten Träumen vergeblich nach ihrer Mutter und einer Zuflucht, die ihr Geborgenheit hätte geben können.

2. Tag
     
    Hinter der Sonnenbrille kniff Ciara die Augen so eng zusammen, dass sie den Weg lediglich durch einen schmalen Schlitz ausmachen konnte.
    An Häuserwände gedrückt, bewegte sie sich rasch voran. Sobald sie ein von der winterlichen Mittagssonne erhelltes Stück Straße überqueren musste, sprintete sie los und kam nicht eher zur Ruhe, bis sie auf Schatten traf, in den sie sich hektisch atmend hüllen konnte. In einer großen unbeschrifteten Papiertüte transportierte sie die geliehene Kleidung. Heute trug sie eine enge blaue Jeans, einen hüftlangen, beigefarbenen Pullover und darüber eine schwarze Lederjacke, die ihrer Mutter gehört hatte. Ihre Füße steckten in schwarzen Schnürstiefeln. Das taillenlange orangerote Haar hatte sie mit einer silbernen Spange zu einem Zopf
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