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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Autoren: Anne Rice
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zweiter Riese hinter dem ersten schritte und jeder seine eigene Trommel schlüge und nicht auf den ändern achtete. Das Dröhnen wurde lauter und lauter, bis es nicht nur mein Gehör, sondern alle meine Sinne zu erfüllen schien, und es bebte in meinen Lippen und Fingern, in meinen Schläfen und Adern. Vor allem in den Adern, Trommel gegen Trommel, und dann zog Lestat plötzlich sein Handgelenk weg, und ich öffnete die Augen und ertappte mich dabei, wie ich nach seinem Handgelenk griff und es mit aller Kraft wieder an meinen Mund führte. Und dann wußte ich, daß die erste Trommel mein Herz war und die zweite Trommel sein Herz.« Der Vampir seufzte. »Verstehst du?«
    Der Junge begann zu sprechen, und dann schüttelte er den Kopf. »Nein… oder vielleicht doch… ich meine, ich.. .«, sagte er.
    »Natürlich«, sagte der Vampir und blickte beiseite.
    »Warten Sie bitte«, sagte der Junge aufgeregt. »Das Band ist fast zu Ende. Ich muß es umdrehen.« Er wechselte es, und der Vampir sah geduldig zu.
    »Wie geht es weiter?« fragte der Junge. Sein Gesicht war feucht, und er wischte mit dem Taschentuch darüber.
    »Ich sah jetzt mit den Augen eines Vampirs«, fuhr der Vampir fort. Seine Stimme klang abwesend, etwas zerstreut. Dann nahm er sich zusammen. »Lestat stand wieder am Fuße der Treppe, und ich sah ihn, wie ich ihn unmöglich früher gesehen haben konnte. Vorher war er mir weiß erschienen, fahlweiß, so daß er nachts fast durchscheinend wirkte; und jetzt sah ich ihn von seinem eigenen Leben und Blut erfüllt - strahlend, nicht mehr durchscheinend. Und das sah ich: nicht nur Lestat, sondern alles hatte sich verändert.
    Es war, als ob ich erst jetzt imstande sei, Farben und Formen zu sehen. Ich war derart verzaubert von den Knöpfen auf Lestats schwarzem Rock, daß ich eine Zeitlang nichts anderes anschauen konnte. Dann lachte Lestat, und ich hörte sein Lachen, wie ich zuvor nichts Ähnliches vernommen hatte. Noch immer hörte ich sein Herz wie eine Trommel schlagen, und nun kam dieses metallische Gelächter hinzu. Es war verwirrend, wie jeder Ton in den nächsten überging, so wie sich nachhallende Glockentöne vermischen, bis ich die Töne zu unterscheiden lernte, sanft, aber bestimmt, das dumpfe Dröhnen und das perlende Gelächter - ein Glockenspiel.« Der Vampir lächelte verzückt. »Wie ein Glockenspiel.«
    ›Hör auf, meine Knöpfe anzustarren‹, sagte Lestat. ›Geh hinaus unter die Bäume. Entledige dich aller menschlichen Reste in deinem Leib, und verliebe dich nicht zu sehr in die Nacht, damit du nicht den Weg verlierst.‹ Das war eine kluge Anweisung. Als ich den Mond auf den Fliesen sah, war ich davon so bezaubert, daß ich fast eine Stunde dort verbrachte. Ich ging an meines Bruders Kapelle vorbei, ohne einen einzigen Gedanken an ihn, und zwischen den Pappeln und Eichen hörte ich die Nacht wie einen Chor von flüsternden Frauen, die mich an ihre Brust riefen. Die Verwandlung meines Körpers war noch nicht abgeschlossen, und als ich mich an alles das gewöhnte, was ich hörte und sah, begann er zu schmerzen. Ich wurde all meiner menschlichen Säfte beraubt. Ich starb als Mensch und lebte schon als Vampir; und mit meinen neu erwachten Sinnen überwachte ich das Sterben meines Körpers mit Unbehagen und schließlich mit Furcht. Ich lief zurück in das Zimmer, wo sich Lestat schon über die Geschäftsbücher der Plantage hergemacht hatte und die Einnahmen und Ausgaben des letzten Jahres prüfte. ›Du bist ein reicher Mann‹, sagte er, als ich eintrat.
    ›Mit mir geht etwas vor!‹ rief ich.
    »Du stirbst, das ist alles, sei nicht albern. Hast du sonst keine Lampen? Soviel Geld, und du kannst dir nur für diese Laterne Öl leisten? Bring mir die Lampe her.‹
    ›Ich sterbe!‹ rief ich. ›Ich sterbe!‹
    ›Das widerfährt jedem‹, sagte er unbeirrt und machte keine Miene, mir zu helfen. Wenn ich daran denke, verachte ich ihn noch immer. Nicht, daß ich mich fürchtete, aber er hätte mich schicklich auf diese Veränderungen aufmerksam machen können, mich beruhigen und mir sagen, ich möge meinen Tod mit der gleichen Faszination betrachten, wie ich die Nacht angeschaut und empfunden hatte. Aber er unterließ es. Lestat war nie ein Vampir wie ich. Durchaus nicht.« Der Vampir sagte das nicht prahlerisch. Er sagte es so, als hätte er es in der Tat anders gemacht.
    Der Vampir seufzte. »Alors, ich starb schnell, und das bedeutete, daß meine Fähigkeit, mich zu fürchten, ebenso schnell
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