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Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Titel: Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Autoren: Christopher Ross
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wohnte in einer dieser Villen, allerdings nur in der winzigen Dachkammer, die dem Dienstmädchen zur Verfügung gestellt wurde.
    Mit dem Wind wehten einige Regentropfen über die Straße. Die düsteren Wolken hingen so tief, dass sie beinahe die Fichten am Strand und im nahen Stanley Park berührten. Kein Wetter zum Spazierengehen, schon gar nicht für eine alleinstehende Dame ohne Begleitung, aber ein Ritual, auf das Clarissa um keinen Preis verzichten wollte. An jedem freien Tag lief sie über die Beach Avenue am Strand entlang, auf dem Küstenweg im Stanley Park, der sich wie eine undurchdringliche Wildnis im Nordwesten der Halbinsel ausbreitete. Dort begegnete sie nur selten Spaziergängern oder Wanderern, höchstens mal einer Squamish-Familie beim Angeln oder Beerenpflücken. Angeblich wohnten noch mehrere Indianerfamilien in verstreuten Dörfern auf der Halbinsel.
    Im Schatten einiger Douglasfichten, die neben dem Weg in die Höhe ragten, blieb sie stehen. Sie trat nah an einen der mächtigen Bäume heran und ließ ihre flache Hand über die Inschrift gleiten, die sie selbst mit einem Messer in die Rinde geritzt hatte: Arthur Howe, August 24, 1892 und Charlotte Howe, March 3, 1893. Neben beide Daten hatte sie ein Kreuz geritzt. Drei Jahre war es nun schon her, seit ihr Vater in einem heftigen Sturm über Bord gegangen und ertrunken war. Sie hatten seine Leiche nie gefunden. Nur ein halbes Jahr später war ihre Mutter ins Wasser gegangen und in den Tod geschwommen. Aus Kummer, wie sie in einem Brief gestanden hatte. Auch nach ihrer Leiche hatte man vergeblich gesucht. Im Meer hatten sie die letzte Ruhe gefunden. Es gab keine Gräber, keine Grabsteine, nur die geritzten Namen und Daten in der Baumrinde, und selbst die waren kaum noch zu erkennen.
    Clarissa trat ans flache Ufer, bis sie mit ihren Schuhen beinahe im Wasser stand, und blickte aufs Meer hinaus. Düstere Nebelschwaden hingen über der Bucht. Die Luft roch nach Salz und Tang und verfaultem Holz, und der kalte Sprühregen erinnerte sie an den nahenden Winter. Nur noch wenige Wochen, vielleicht auch nur Tage, trennten sie von der kalten Jahreszeit. In Vancouver waren die Winter verhältnismäßig mild, doch schon in den Ausläufern der Berge, wo ihr Onkel seine Farm hatte, trieb er eisige Schneestürme über das Land, und in den Coast Mountains weiter nördlich lag der Schnee so hoch, dass man nur mit dem Hundeschlitten oder auf Schneeschuhen vorwärtskam.
    Auf dem Meer waren die Umrisse eines Fischerbootes zu sehen. Ein Kutter, der wahrscheinlich nur Kabeljau und Heringe in seinen Netzen hatte. Um diese Zeit gab es nicht viel zu holen in diesen Breiten, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Oft waren sie mit leeren Netzen nach Hause gekommen, wenn sie im Spätherbst rausgefahren waren. Sie war häufig dabei gewesen, wenn sie im Sommer für ihre Eltern und im Winter als Haushälterin oder Köchin gearbeitet hatte, meist zusammen mit ihrer Mutter, die ebenfalls arbeiten gehen musste, weil sonst das Geld nicht gereicht hätte. Nach ihrem Tod hatte sie das verschuldete Boot bezahlt und ihren restlichen Besitz verkauft und keine fünfzig Dollar dafür bekommen. Das Geld lag in einem Beutel unter ihren Kleidern.
    Ihr Vater hatte seinen Beruf so manches Mal verflucht, auf das stürmische Wetter vor Vancouver Island und die niedrigen Fangquoten geschimpft und die chinesischen Einwanderer dafür verantwortlich gemacht, dass ihre Netze immer leichter wurden und sie kaum noch über die Runden kamen, obwohl keiner der Chinesen als Fischer arbeitete. Die meisten Asiaten hatten beim Bau der Canadian Pacific geholfen und arbeiteten jetzt in Fabriken oder Wäschereien. Doch das Meer hatte ihn auf magische Weise angezogen. »Das Meer ist mein Leben«, hatte er gesagt und wohl schon gewusst, dass es auch einmal sein Tod sein würde. Clarissa konnte sich noch gut an den Jahrhundertsturm erinnern, wie er heulend und fauchend über die Bucht gebraust war und ihre Mutter und sie gemeinsam am Fenster standen und auf das schäumende Meer hinausgeblickt hatten. Schon damals war ihnen klar gewesen, dass er nicht wieder nach Hause zurückkehren würde. Seine eigene Schuld, wie sie zugeben musste, weil er trotz aller Warnungen hinausgefahren war. »Du bleibst bei der Mutter«, hatte er zu ihr gesagt, »ich schaff das schon.«
    Sieben Monate später, nachdem sie vergeblich versucht hatte, einen entfernten Verwandten für die Fischerei zu begeistern, war ihre Mutter dem Vater ins
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