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Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Titel: Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Autoren: Christopher Ross
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ungebunden fühlen zu können wie fernab der Küste.
    Sie zog langsam ihren Mantel aus und warf ihn aufs Bett. Nach dem Essen, das sie auch an ihren freien Tagen in der Küche bekam, würde sie sich aufs Bett legen und den Nachmittag mit einem guten Buch verbringen. Anders als ihre Eltern, die selten gelesen hatten, tauchte sie gern in fremde Welten ein, etwa in das neue Tom-Sawyer-Buch von Mark Twain, das auf ihrem Kissen lag. Bücher waren der einzige Luxus, den sie sich leistete, sehr zur Verwunderung von Louise Whittler, die anscheinend an ungebildete Dienstmädchen gewöhnt war. Ihre Vorgängerin war eine Indianerin gewesen, die weder lesen noch schreiben konnte. An Weihnachten hatte Mrs Whittler ihr sogar ein Buch geschenkt, eines aus dem eigenen Bücherschrank natürlich, denn unnütze Geldausgaben waren den Whittlers ein Gräuel. Sie waren geizig, eine Eigenschaft, die sie bei vielen reichen Leuten beobachtet hatte.
    Von der Straße drang Hufgeklapper herauf. Sie trat erneut ans Fenster und beobachtete, wie eine Kutsche vor dem Haus hielt, und ein Gentleman mit seiner Begleiterin ausstieg. Der Mann mit dem Zylinder, der ihr auf der Beach Avenue hinterhergestarrt hatte! Sie erkannte ihn an seinem hageren Gesicht und seinem spöttischen Lächeln und zuckte unwillkürlich zurück, als er seinen Zylinder abnahm und seine Begleiterin zur Treppe führte. Er sagte etwas, das sie nicht verstand, und sprach anscheinend mit der dicken Köchin, die sie an ihrem freien Tag als Dienstmädchen vertrat. Seine hochmütige Miene ließ vermuten, dass er sie zurechtgewiesen hatte. Das Gesicht der blonden Lady, die mit ihm gekommen war, war unter einem breitkrempigen Hut verborgen.
    Clarissa nahm ihren Hut ab und setzte sich aufs Bett. Der Gedanke, dass der aufdringliche Gentleman länger bleiben könnte, beunruhigte sie. Sie verspürte keine Lust, sich noch einmal sein spöttisches Lächeln gefallen lassen zu müssen. Und es war nicht nur dieses Lächeln und die Art, wie er sie angesehen und mit seinen Blicken verschlungen hatte. Von ihm war etwas Bedrohliches ausgegangen, als hätte er geschworen, ihr so lange nachzustellen, bis sie sich ihm hingab, ungeachtet der blonden Lady an seiner Seite und ungeachtet ihrer Weigerung, sein Lächeln und Winken zu erwidern.
    Ein abwegiger Gedanke, wie sie zugeben musste, und doch nicht aus der Welt, hörte man doch immer wieder von Gentlemen seines Schlages, dass sie sich bei Abhängigen das holten, was sie bei ihren Ehefrauen oder Verlobten nicht bekamen. Erst vor ein paar Wochen war das Gerücht umgegangen, der Juniorchef einer Gießerei hätte eine Fabrikarbeiterin vergewaltigt und dabei so stark verletzt, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Die Arbeiterin wusste natürlich, dass es vollkommen sinnlos war, einen Mann wie ihn zu verklagen, und hatte die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen.
    Über die Treppe näherten sich Schritte. Es klopfte, die Tür ging auf, und die Köchin streckte ihren Kopf ins Zimmer. »Gut, dass du hier bist, Clarissa«, sagte sie. »Die Herrin schickt mich. Es wäre unerwarteter Besuch gekommen, und du solltest heute Dienst machen. Ihr Sohn ist aus Toronto zurückgekehrt. Frank Whittler und seine Verlobte. Keine Ahnung, wie sie heißt.« Sie senkte ihre Stimme und blickte sich um, bevor sie fortfuhr: »Ein widerlicher Geselle, wenn du mich fragst, und seine Verlobte ist nicht viel besser. Ich soll ihr um Punkt drei den Tee servieren, nicht um vier, sondern um drei, das sei sie von zu Hause gewöhnt.« Sie verdrehte die Augen. »Kommst du? Sie warten auf dich. Die Herrin möchte dich in spätestens zehn Minuten im Salon sehen.«
    »Frank Whittler?« Clarissa war bereits am Schrank und zog ihre Dienstmädchen-Uniform heraus, den schwarzen Rock, die weiße Bluse und die weiße Haube. »Ich dachte, der wollte in Toronto eine Anwaltskanzlei eröffnen.«
    Die Köchin blickte sich erneut um. »Hat anscheinend nicht geklappt. Soviel ich gerade mitbekommen habe, will er bei seinem Vater einsteigen.«
    »Und seine Verlobte?« Clarissa schlüpfte aus ihren Kleidern.
    »Spielt die Madame. Du kennst doch den Typ.«
    »Betsy!«, schallte es von unten herauf. »Wo bleibst du denn?«
    »Ich bin schon unterwegs, Madame!«, rief die Köchin. Sie zog die Tür zu und lief nach unten. Unter jedem ihrer schweren Schritte knarrten die Stufen.
    Clarissa hatte bereits ihre Uniform angezogen, band vor dem Spiegel über der Kommode ihre Haare neu und steckte die Haube mit zwei
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