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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim
Autoren: Kathrin Lange
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Licht des Mondes. Heinrich bohrte den Finger hinein, erst zur Hälfte, dann gänzlich, und als seine Haut von der Kälte zu schmerzen begann, wartete er noch einen Moment und zog den Finger dann zurück.
    Er saß auf seinem angestammten Platz unter einem Brückenbogen, obwohl ein eisiger Hauch aus dem Fluss in die Höhe stieg und mit klammen Fingern nach ihm griff. Aufmerksam starrte er über das schwarze Wasser hinweg und lauschte in die Dunkelheit hinaus.
    Schon seit Tagen lag Nürnberg unter einer Glocke aus Frost, die die Geräusche in den Straßen und Gassen verstärkte und sie in klirrendes Glas verwandelte, das auf dem rauen Pflaster zerschellte.
    Sogar die Hunde, die sonst die Dunkelheit mit ihrem fortwährenden Gebell erfüllten, schwiegen angesichts der Kälte, die den Atem sichtbar aus ihren Schnauzen steigen ließ und sie selbst in ihre Hütten und Verschläge trieb. Nur eine einsame Katze huschte an Heinrich vorbei, das Fell gesträubt und die Ohren an den Kopf gelegt, als fürchte sie sich vor den Gestalten der Dunkelheit.
    Als von jenseits des Flusses der feste Tritt eines Mannes erklang, blieb die Katze wie angewurzelt stehen, und als den Schritten das leisere, rasche Trippeln von Kinderschritten folgte, sträubte sich ihr Nackenhaar, und sie fauchte drohend.
    »Müssen wir das wirklich tun, Vater?«, jammerte eine helle Stimme.
    Heinrich hob den Kopf und horchte, und als ein Mann und ein kleiner Junge um die Ecke bogen, wich er so tief wie möglich in die Dunkelheit unter der Brücke zurück. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die beiden.
    Vater und Sohn waren eingehüllt in dicke Wollmäntel und trugen Mützen aus hellgrauem Kaninchenpelz. Die Unterschenkel des Mannes waren dick umwickelt mit mehreren Lagen hellen Leinens, während der Junge auf klobigen Holzschuhen hinter seinem Vater herhastete.
    Die Katze verschwand mit einem Satz in der Lücke zwischen zwei Häusern. Der Vater warf ihr einen stirnrunzelnden Blick hinterher. »Ich habe es dir hundertmal erklärt«, brummte er. In der einen Faust hielt er eine blakende Fackel und in der anderen einen Sack, dessen Kordel im Licht der Flamme rot glänzte. Deutlich hörte Heinrich klägliches Miauen aus dem Sack hervordringen.
    »Sie hat jetzt zum zweiten Mal Kleine mit zwei Schwänzen geboren«, sagte der Mann. »Sie hat den Teufel im Leib!«
    »Aber sie ist doch meine Freundin!«, jammerte der Junge.
    »Wenn aber dein rechtes Auge dir Anstoß gibt, so reiß es aus und wirf es von dir; denn es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder umkomme, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde.« DerMann seufzte schwer. »Glaub mir, ich tue das hier auch nicht gern, aber es muss sein!«
    »Sie hat auch früher schon Kleine mit zwei Schwänzen geboren«, wandte das Kind erneut ein. »Da hast du nur die Kleinen ersäuft, nicht sie.«
    Mit einem Ruck blieb der Mann stehen. Noch einmal seufzte er. »Da hatte auch der Teufel Nürnberg nicht in seinen Klauen, Junge!« Er sprach jetzt mit einer Mischung aus Barschheit und Mitleid.
    Der Teufel!
    Heinrich erzitterte. Der Teufel. Er presste die Hände auf die Ohren, aber dennoch hörte er, wie der Vater weitersprach: »Du hast doch gesehen, was in der letzten Zeit passiert ist. Nein, glaub mir, es ist besser, diese Ausgeburt der Hölle loszuwerden!«
    »Ausgeburt der Hölle ...« Die Stimme des Kindes verklang in einem langgezogenen, gequälten Schluchzer. Die beiden betraten die Brücke und verschwanden für einen Moment aus dem Blickfeld von Heinrich. Als sie auf seiner Seite des Flusses wieder auftauchten, konnte er sehen, wie sie stehenblieben. Vor ihnen lag eine flache Treppe, die zur Wasseroberfläche hinunterführte und über deren untere Stufen der Fluss leise schwappte.
    »Halt das!«, befahl der Mann dem Kind, überreichte ihm die Fackel und ging mit zögernden Schritten die Treppe hinunter. Dicht vor der Wasseroberfläche blieb er stehen.
    Der Junge wagte sich nicht weiter vor. Schwer atmend und leise schniefend stand er da und rührte sich nicht. Die Flamme warf unruhige Schatten auf sein hageres Gesicht.
    »Herr im Himmel«, murmelte der Mann und hob den Sack am ausgestreckten Arm in die Höhe. »Gib, dass wir in deinem Namen recht tun, wenn wir diese Kreatur der Hölle dorthin zurückschicken, woher sie kommt.« Er zögerte einen Moment, dann schwang er den Arm zurück und warf den Sack so weit er konnte auf den Fluss hinaus.
    Mit einem Klatschen traf er auf dem Wasser auf, und
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