Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
hallte zwischen den Wänden der engstehenden Häuser wider.
    Heinrich zermarterte sich den Kopf darüber, was die Gestalt von ihm wollte. Gewöhnlich sprach ihn niemand an. Die meisten Menschen mieden ihn lieber.
    Ob dieser Fremde ihn kannte?
    Verwirrt fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Anna?«, fragte er. Das Wort zitterte auf seiner Zunge, als habe es ein Eigenleben.
    Die Engel in der Luft kreischten vor Vergnügen.
    Die Gestalt kam näher. Sie bewegte sich mit geschmeidiger Anmut, wie jemand, der im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte war. Ganz anders als Heinrich.
    »Katharina?«, machte er einen zweiten Versuch.
    Wieder bekam er keine Antwort.
    Die Gestalt war jetzt heran.
    »Wer bist du?«, hauchte Heinrich.
    Als Antwort erhielt er Schweigen. Dann die rasche Bewegung einer Hand. Etwas blitzte im Mondlicht. Fuhr auf sein Gesicht nieder. Danach. Schmerzen.
    Schmerzen und Finsternis.
    Das Letzte, was Heinrich hörte, als er in die gefrorene Gosse sank, waren die Engel in der Luft über ihm.
    Sie kreischten jetzt nicht mehr. Sie lachten.
    Während Katharina durch die düsteren Gassen der Stadt streifte und nach Heinrich Ausschau hielt, versuchte sie, sich von Zorn und vor allem von den Schuldgefühlen freizumachen, die ihre Mutter immer und immer wieder in ihr entfachte. Irgendwann kam sie an der doppeltürmigen Westfassade von St. Sebald vorbei. Linkerhand lag derFriedhof, dessen Einfassung und Grabsteine man repariert hatte, nachdem im August ein Baugerüst auf sie gestürzt war und sie zertrümmert hatte. Im schwachen Licht des Mondes, der sich jetzt hinter ein paar Wolkenfetzen verbarg, leuchteten die neuen Steine hell wie Knochen.
    Auf diesem Friedhof lag Matthias.
    Katharinas Bruder war im August das Opfer des Engelmörders geworden, eines Irren, der scheinbar planlos Menschen ermordet und sie mit Hilfe von Schwanenflügeln in die schockierenden Abbilder von Engeln verwandelt hatte. Katharina erinnerte sich noch gut daran, wie sie vor dem mit einem Tuch abgedeckten Leichnam ihres Bruders gestanden, wie sie das Tuch fortgezogen und diese furchtbaren Flügel gesehen hatte, deren weiße Federn im Staub hingen ...
    Nur mit Mühe gelang es ihr, dieser beklemmenden Erinnerungen Herr zu werden. Sie legte beide Hände an die Wangen, atmete einmal tief durch und setzte dann ihren Weg fort, um Heinrich zu suchen.
    Es gab mehrere Stellen, an denen er sich für gewöhnlich aufhielt. Wenn sie Pech hatte, würde sie eine nach der anderen aufsuchen müssen, bevor sie ihn fand.
    Kurze Zeit später erreichte sie das Spittlertorviertel. Ein Nachtwächter mit einer Laterne an einer langen Stange kam ihr entgegen und grüßte sie mit einem knappen Nicken.
    Kurz darauf verhallten die Tritte seiner schweren Stiefel in den Gassen hinter ihr.
    Sie unterdrückte ein Seufzen. Ein Kaufmann, der offenbar von einem späten Geschäftstermin auf dem Weg nach Hause war, kam um eine Ecke und warf ihr einen langen Blick zu. Es war deutlich, dass er Katharina für eine Hure hielt, und Katharina konnte es ihm nicht einmal verdenken. Frauen, die sich zu dieser späten Stunde auf der Straße herumtrieben, gingen in den seltensten Fällen einer ehrbaren Tätigkeit nach. Demonstrativ wandte Katharina den Kopf und zupfte an ihrer weißen Haube, die sie als verheiratete Frau auswies. Aber der Mann war entweder zu betrunken, um die Bedeutung ihrer Kopfbedeckung zu erkennen, oder aber sie war ihm einerlei. Herausforderndkam er auf Katharina zu, und sie musste ihm einen überaus finsteren Blick zuwerfen, bevor er endlich begriff, dass sie nicht zu haben war. Enttäuschung huschte über seine Miene, doch er setzte seinen Weg fort, ohne ein einziges Wort an sie gerichtet zu haben.
    Katharina sah an sich herunter. »Nicht das, was du zu finden gehofft hast!«, sagte sie leise und im Tonfall einer der Hübschlerinnen aus dem Spittlertorviertel. Dass der Mann nicht gleich auf den ersten Hinweis reagiert hatte, gab ihr zu denken. Vielleicht sollte sie doch wieder dazu übergehen, die schwarze Haube aufzusetzen. Wenn die Leute sahen, dass sie Witwe war, behandelten sie sie gewöhnlich mit größerem Respekt.
    Sie wischte sich eine lose Haarsträhne aus der Stirn und machte auf dem Absatz kehrt.
    Witwe.
    Das Wort klang so ... endgültig. Katharina verdrängte alle aufkeimenden Erinnerungen an ihren toten Mann.
    Vorbei an St. Sebald und dem Friedhof gelangte sie zum Rathaus. Dem darin liegenden Lochgefängnis schenkte sie keinen Blick, sondern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher