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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim
Autoren: Kathrin Lange
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seiner Frau und seiner Stieftochter erlaubt, in seinem Haus wohnen zu bleiben, bis sich ein neuer Henker gefunden hatte.
    Das Haus war winzig, und wie ein nutzlos gewordener Brückenbogen schwebte es mitten über der Pegnitz, die zwischen zwei Pfeilern unter ihm hindurchfloss. Ein paar Eisschollen trieben auf dem Fluss. Der Mond stand tief über dem östlichen Horizont, und über der Stadt zogen Wolkenfetzen in ruheloser Hast von Ost nach West.
    Drüben beim Fleischhaus kümmerten die Männer sich weder um die Dunkelheit noch um die Kälte. Geschäftig liefen sie hin und her, und ihre Schatten wirkten im zuckenden Licht der Fackeln übergroß.
    »Kind?«
    Die helle Stimme von Katharinas Mutter Mechthild drang aus dem hinteren Zimmer der schmalen, langgestreckten Wohnung.
    Katharina unterdrückte ein Seufzen. »Ja, Mutter! Habe ich dich geweckt? Es tut mir leid, das wollte ich nicht.«
    Von ferne schlug es Mitternacht, und Katharina registrierte, dass wenigstens der Mann auf dem Weißen Turm seine Tätigkeit wiederaufgenommen hatte, nachdem tagsüber alle drei Türmer, aus welchen Gründen auch immer, den Dienst verweigert hatten.
    »Schon gut«, meinte Mechthild. »Kannst du mir kurz helfen?«
    »Natürlich, Mutter!« Katharina warf einen letzten Blick auf die arbeitenden Fleischer, dann griff sie nach dem Fenster, um es wieder zu schließen. Aber mitten in der Bewegung hielt sie inne und überlegte es sich anders. Die frische Luft tat ihr gut. Vielleicht war es besser, das Fenster offenstehen zu lassen.
    Sie wappnete sich und betrat die Kammer ihrer Mutter.
    »Sie arbeiten die Nacht durch, drüben am Fleischhaus«, sagte sie und zwang sich, es nicht durch zusammengebissene Zähne zu tun. Jedes einzelne Wort musste sie hervorwürgen wie einen Stein. »Und der Türmer vom Weißen Turm arbeitet wieder.«
    Ihre Mutter lag in ihrer winzigen Kammer, lang ausgestreckt auf dem Bett, die Arme auf der Decke, die Katharina kurz bevor sie sich selbst hingelegt hatte, sorgfältig um sie herum festgesteckt hatte.
    Mechthild Augspurger nickte. »Ich weiß. Ich kann sie hören. Sie versuchen noch immer, die Verluste wieder reinzuholen, die die Ereignisse ihnen beschert haben.«
    Katharina schluckte. Die Ereignisse.
    Ihre Mutter weigerte sich, die Dinge, die im August in der Stadt geschehen waren, anders zu nennen. Die Ereignisse ... Was für ein höhnischer Ausdruck dafür, dass halb Nürnberg dem Wahnsinn verfallen war, weil ein Irrer die Brunnen vergiftet hatte! Welch feige Umschreibung für die Tatsache, dass Matthias, Katharinas Halbbruder und Mechthilds einziger Sohn, dabei ums Leben gekommen war, ebenso wie Bertram, Mechthilds Mann.
    Und wie so schrecklich viele andere.
    »Was schaust du so vorwurfsvoll?«, fragte Mechthild. Sie streckte eine Hand aus und wies unter das Bett, wo ihr Nachttopf stand. Sie war gelähmt und auf Hilfe bei ihren täglichen Verrichtungen angewiesen.
    Katharina rührte sich nicht. Sie spürte, wie ihre Kiefer sich verkrampften bei dem Versuch, die Worte zurückzuhalten, die sich auf ihre Zunge drängten. »Nur so.« Sie bückte sich nach dem Nachttopf.
    Die Luft zwischen ihnen war angefüllt mit Groll und Verdruss. Als Katharina ihrer Mutter den Nachttopf reichte, wich sie ihrem Blick aus.
    »Es tut mir leid, dass ich dir das zumuten muss«, sagte Mechthild. »Früher hat Bertram das gemacht, aber ...« Sie verstummte, weil Katharina warnend die Hand hob.
    Die Steine in Katharinas Kehle verwandelten sich in Felsbrocken. Sie schluckte dagegen an, aber vergeblich. »Ruf mich, wenn du fertig bist«, bat sie, wandte sich zum Gehen und schloss die Tür hinter sich.
    In der Mitte ihrer eigenen Kammer blieb sie stehen, die Fäuste geballt und eine solche Anspannung in der Nackenmuskulatur, dass ihr Kopf anfing zu schmerzen. Diese drangvolle Enge der beiden winzigen Räume, die Erinnerung an die massige Gestalt ihres Stiefvaters, die noch immer wie ein Geist durch die kleine Wohnung zu streifen schien, die Nähe zu ihrer Mutter – Katharina wusste nicht, wie lange sie das alles noch aushalten konnte, ohne sich die Fäuste an den Wänden blutig zu schlagen.
    »Du kannst wieder reinkommen«, hörte sie Mechthild.
    Sie straffte die Schultern, dann öffnete sie die Tür mit einem Ruck. Obwohl sie sich bemühte, durch den Mund zu atmen, konnte sie den Urin ihrer Mutter riechen. Alte Frauen hatten einen sehr besonderen Geruch, das wusste sie natürlich, denn sie hatte früher zahlreiche ältere Frauen als
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