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Charlston Girl

Charlston Girl

Titel: Charlston Girl
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kannten sie kaum«, sagt Dad zu unserer Entschuldigung. »Sie war sehr alt.«
    »Hundertfünf«, wirft Mum ein. »Sie war hundertfünf.«
    »War sie einmal verheiratet?«, fragte die Pastorin.
    »Ah...« Dad runzelt die Stirn. »Gab es da einen Mann, Bill?«
    »Keine Ahnung. Ja, ich glaub schon. Weiß aber nicht, wie er hieß.« Onkel Bill hat nicht einmal von seinem BlackBerry aufgeblickt. »Könnten wir jetzt weitermachen?«
    »Natürlich.« Das mitfühlende Lächeln der Pastorin ist gefroren. »Nun, vielleicht nur eine kleine Anekdote von Ihrem letzten Besuch bei ihr... irgendein Hobby...«
    Wieder herrscht betretenes Schweigen.
    »Auf dem Foto trägt sie eine Strickjacke«, meint Mum schließlich. »Vielleicht hat sie sie selbst gestrickt. Vielleicht mochte sie Stricken.«
    »Haben Sie sie denn nie besucht?« Die Pastorin muss sich offensichtlich zwingen, höflich zu bleiben.
    »Selbstverständlich haben wir das!«, sagt Mum gekränkt. »Wir haben kurz bei ihr reingeschaut...« Sie überlegt. »1982 war das, glaube ich. Lara war noch ein Baby.«
    »1982 ?« Die Pastorin ist entrüstet.
    »Sie hat uns nicht erkannt«, wirft Dad eilig ein. »Sie war gar nicht richtig da.«
    »Was ist mit ihrem früheren Leben?« Aus der Stimme der Pastorin spricht Empörung. »Nichts Erwähnenswertes? Geschichten aus ihrer Jugend?«
    »Meine Fresse, Sie geben wohl nie auf, oder?« Diamanté reißt an ihren Ohrstöpseln. »Merken Sie nicht, dass wir nur hier sind, weil wir müssen? Sie hat nichts Besonderes gemacht. Sie hat nichts erreicht. Sie war ein Niemand! Nur irgendein steinalter Niemand.«
    »Diamanté!«, sagt Tante Trudy mit mildem Tadel. »Das ist nicht sehr nett.«
    »Aber es stimmt doch, oder? Ich meine, sieh dich um!« Verächtlich deutet sie auf den leeren Raum. »Wenn nur sechs Leute zu meiner Beerdigung kämen, würde ich mich erschießen.«
    »Junges Fräulein.« Die Pastorin tritt ein paar Schritte vor, ganz rot vor Zorn. »Kein Mensch auf Gottes Erde ist ein Niemand.«
    »Wenn Sie es sagen«, gibt Diamanté barsch zurück, und ich sehe, wie die Pastorin ihren Mund aufmacht, um noch etwas zu erwidern.
    »Diamanté.« Onkel Bill hebt seine Hand. »Es reicht. Selbstverständlich bedauere ich zutiefst, Sadie nie besucht zu haben, die bestimmt ein ganz besonderer Mensch war, und da spreche ich sicher für uns alle.« Er ist dermaßen charmant, dass ich sehe, wie sich die aufgestellten Nackenhaare der Pastorin glätten. »Nun aber möchten wir sie gern mit Würde auf ihre Reise schicken. Sie haben sicher einen vollen Terminkalender, genau wie wir.« Er tippt auf seine Uhr.
    »In der Tat«, sagt die Pastorin nach einer Pause. »Ich bereite mich kurz vor. Stellen Sie bitte in der Zwischenzeit Ihre Handys aus.« Mit einem letzten, missbilligenden Blick in die Runde geht sie hinaus, und Tante Trudy dreht sich augenblicklich auf ihrem Sitz um.
    »Die hat ja Nerven, uns ein schlechtes Gewissen einzureden! Wir müssen ja wohl nicht hier sein, oder?«
    Die Tür geht auf, und alle sehen hinüber - aber es ist nicht die Pastorin, sondern Tonya. Ich wusste gar nicht, dass sie kommt. Dieser Tag verschlechtert sich gerade um etwa hundert Prozent.
    »Hab ich es verpasst?« Ihre schneidende Stimme erfüllt den Raum, während sie den Gang entlanggeht. »Ich konnte mich gerade noch vom Krabbelturnen wegschleichen, bevor die Zwillinge ausrasten. Ehrlich, dieses Aupair-Mädchen ist noch schlimmer als das letzte, und das will was heißen.«
    Sie trägt schwarze Hosen und eine schwarze Strickjacke mit Leopardenbesatz, und ihr dickes Haar mit den Strähnchen ist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Tonya war früher Bürochefin bei Shell und hat den lieben langen Tag Leute herumkommandiert. Jetzt ist sie Vollzeit-Mutter von Zwillingen, Lorcan und Declan, und kommandiert stattdessen ihre armen Aupair-Mädchen herum.
    »Wie geht es den Jungs?«, fragt Mum, aber Tonya hört es nicht. Sie ist völlig auf Onkel Bill fixiert.
    »Onkel Bill, ich hab dein Buch gelesen! Es war fantastisch! Es hat mein Leben verändert. Ich habe allen davon erzählt. Und das Foto ist großartig, auch wenn es dir kein bisschen gerecht wird.«
    »Danke, Schätzchen.« Bill lächelt sie mit seinem gewohnten »ja-ich-weiß-dass-ich-toll-bin«-Blick an, doch sie scheint es nicht zu merken.
    »Ist das Buch nicht fantastisch?« Sie sucht unsere Zustimmung. »Ist Onkel Bill nicht ein Genie? Mit absolut nichts anzufangen! Nur zwei Münzen und ein großer Traum! Es ist inspirierend
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