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Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte

Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte

Titel: Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte
Autoren: Manuel Vázquez Montalbán
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ein Zivilpolizist.
    Â»Täglich gibt es mehr Clochards. Mehr von diesen armen Hungerleidern. Wie viele Stiche?«, fragte Lifante den düsteren Souffleur.
    Â»Zwölf oder dreizehn, da hatte jemand wohl richtig Spaß. Das Messer ist bis zum Heft eingedrungen. Der letzte Stich hat ihr Herz erwischt, und manche gingen nacheinander in dieselbe Stelle, als wären es zwei Täter gewesen.«
    Â»Sämtliche Details bleiben unter uns. Wer kann einen Penner bloß so hassen?«
    Â»Ein anderer Penner«, antwortete der Polizist, offenbar ein Experte, was Obdachlose betraf.
    Lifante ging in die Hocke, um die zerlumpte Leiche näher in Augenschein zu nehmen, berührte sie jedoch nicht.
    Â»Niemand wird als Penner geboren. Hinter dieser Frau steckt eine Geschichte. Ein Name. Wurde sie schon identifiziert?«
    Â»Nein, sie hatte kein einziges Dokument bei sich, nichts, was uns irgendwie weitergeholfen hätte. Sie muss schon eine ganze Weile unter den Kartons gelegen haben, die Leute haben vermutlich gedacht, sie würde schlafen. Nicht mal das getrocknete Blut um sie herum ist irgendwem aufgefallen. Wahrscheinlich glaubten alle, es sei Schmutz, was da unter den Kartons zum Vorschein kam. Ist nicht die erste Leiche eines Obdachlosen, die eine halbe Woche unter Kartons gelegen hat.«
    Â»Woher weißt du so viel über Obdachlose?«
    Â»Ich war schon unter Contreras dabei, Ihrem Vorgänger. Am Schluss hatte er die merkwürdige Vorstellung, die Polizei der Zukunft müsse sich spezialisieren, und ich wurde damit beauftragt, mich um die neuartigen Formen sozialer Ausgrenzung zu kümmern. Irgendwo habe ich gelesen, dass eine neue Form der Armut mit kriminellen Folgen auf uns zukommt.«
    Â»Penner stehen für die alte Armut. Erkundigt euch bei anderen Obdachlosen, die sich gewöhnlich hier auf diesem Bahnhof herumtreiben. Oder bei allen anderen. Penner sehen für mich alle gleich aus. Wie Chinesen. Geht Ihnen das auch so, Celso?«
    Â»Die von hier haben sich aus dem Staub gemacht, und wenn wir doch einen finden, dann will er nichts gesehen haben und weiß von nichts. Wird wohl jemand eine offene Rechnung beglichen haben. Die können ganz schön grausam sein, aus Gründen, die anderen banal vorkommen.«
    Lifante erhob sich.
    Â»Die Codes, Celso, die Codes. In ein und derselben Gesellschaft gibt es eine Unzahl von Codes und Zeichen. Jeder Mensch ist ein Zeichensystem, deshalb sollten wir beim Entschlüsseln menschlicher Botschaften immer die Semiologie hinzuziehen.«
    Â»Das mit der Semiologie wird man Ihnen wohl so schnell nicht austreiben.«
    Lifante führte den kleinen Trauerzug mit der Bahre der ermordeten Obdachlosen an. Er bahnte sich einen Weg durch die Zuschauer, atmete angestrengt, als bekäme er nicht genügend Luft, und stieß die Neugierigen, die ihm den Weg versperrten, unsanft zur Seite.
    Â»Platz da, oder war die Tote vielleicht eine Angehörige von Ihnen?«
    Â»Ein Anruf aus dem Präsidium.«
    Lifante nahm das Handy, das ihm sein Assistent hinhielt. Er lauschte der Mitteilung und maß ihr wachsende Bedeutung bei, lieferte den wartenden Polizisten jedoch keinerlei Erklärung, nachdem er aufgelegt hatte, sondern wandte sich wieder dem Düsteren zu.
    Â»Mehr denn je. Absolute Diskretion, was die Details angeht, und eine präzise Untersuchung der Hintergründe und Umstände.«
    Â»Doch nicht einfach nur ein weiterer Penner?«
    Â»Vielleicht nicht.«
    Lifante verließ die Metro-Station Urquinaona und verzichtete darauf, in den Streifenwagen zu steigen. Mit großen Schritten machte er sich zum Polizeipräsidium in der Vía Layetana auf, dicht gefolgt von dem hinkenden Bettlerexperten. Vor den Anbauten des Palau de la Música Catalana blieb er stehen und zeigte sie seinem Knappen.
    Â»Hier haben wir ein hervorragendes Beispiel für die Integration zeitlicher Gegensätze innerhalb derselben Botschaft eines Gefäßes und derselben Funktion seines Inhalts.«
    Der Vagabundologe sah zum Himmel auf, nicht weil er dort nach einer Erklärung suchte für das, was sein Chef da sagte, sondern um ihm zu entkommen. Aber es gelang ihm nicht.
    Â»Folgen Sie mir, Cifuentes.«
    Er führte ihn zum Seiteneingang des Palau.
    Â»Wenn hier nicht so viele Schaulustige wären, würde ich mich sofort auf den Boden werfen, um die Harmonie zwischen vertikalem Verlauf und Barock zu bestaunen, die das
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