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Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte

Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte

Titel: Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte
Autoren: Manuel Vázquez Montalbán
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wieder im Mund landet, weil man es nicht gut gekaut hat.«
    Â»Eine ziemlich pessimistische Sicht.«
    Â»Ich habe keine andere. Ich befasse mich lieber mit der Zukunft.«
    Carvalho fragte nicht, ob Biscuter überhaupt eine Zukunft hatte – es wäre einer Beleidigung gleichgekommen. Auch der flüchtige, aus Eigennutz flüchtige Eindruck, Biscuter werde allmählich alt, währte nicht lange. Wie alt war Biscuter? Wer war Biscuter? Wie hieß Biscuter wirklich? Wie sollte er das wissen, ohne ihn zu fragen? Die Spaghetti
alla genovese
oder
alla was auch immer
waren gut, sie schmeckten nach Hausmannskost, antitheologisch, wenn man in Betracht zog, dass auch die Ernährung ihre Theologie besaß, die beispielsweise das Vermischen von Pasta, gekochten Kartoffeln und Gemüse untersagte. Eine zarte, einsam und allein auf ihrem Bett aus leichtem Pesto ruhende Bohnenschote weckte Erinnerungen an die Abendessen seiner Kindheit. Er überließ sich seinen Gedanken, als plötzlich das Telefon läutete und Biscuter den Finger an die Lippen legte und ihn mit einer Handbewegung davon abhielt, den Hörer abzunehmen. Das Telefon war verstummt, doch aus dem neuen Gerät drangen die Vorbereitungsgeräusche für einen unbestimmbaren Start, und aus einem Schlitz trat ein Blatt Papier hervor, erst noch schüchtern, dann begierig, die Geburt so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Ein Blatt. Ein einziges Blatt. Stille. Biscuter ergreift die Initiative, zieht es heraus und reicht es, ohne seinen Inhalt zu lesen, an Carvalho weiter.
    Â»Ich muss Sie dringend sprechen, es geht um das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte. Dorotea Samuelson.«

2 Welcher Teil seiner Vergangenheit ist die Heimat eines Mannes?
    Die Frau hat grüne Augen, das blondgefärbte Haar eines Mädchens und eine ungepflegte Haut, die sämtliche Narben aus sechzig Jahren und einem Tag in sich vereint. Eine Verfechterin der biologischen Aufrichtigkeit. Sie möchte niemanden hinters Licht führen, was das Verhältnis zwischen ihrem Aussehen und ihrem Alter betrifft, aber vielleicht will sie auch nur sich selbst nicht täuschen.
    Â»Dorotea Samuelson. Ich wurde vor dreiundsechzig Jahren in Buenos Aires geboren, lebe aber schon seit Langem in Barcelona. Ich gebe Seminare. In Anthropologie. Glaube ich zumindest.«
    Â»Sie glauben es nur?«
    Â»Es geht um die Grenzen zwischen philosophischer und kultureller Anthropologie, das kommt ganz darauf an, wie man die Anthropologie des Seins oder der menschlichen Natur betrachtet. Die Grenzen der Anthropologie – das ist hier die Frage. Damals, in meiner Heimat, war das der Ausgangspunkt für meine Leidenschaft. Buenos Aires ist meine Vergangenheit, das glaubte ich zumindest lange, aber gelegentlich gewinnt die Vergangenheit Aktualität, befällt die Gegenwart, die Gegenwart als Inquisition, von der Sciascia spricht. Ein italienischer Schriftsteller, kein Anthropologe. Ein Teil von uns ist für immer in der Vergangenheit zurückgeblieben. Und manchmal ist das der wesentliche Teil.«
    Carvalho sprach zu sich selbst, während er den langen, auf den einen oder anderen Komplex verweisenden Rock von Señora Samuelson betrachtete.
    Â»Welcher Teil seiner Vergangenheit ist die Heimat eines Mannes?«
    Dorotea glaubte, er hätte sich an sie gewandt.
    Â»Haben wir Frauen kein Recht auf diese Frage?«
    Carvalho sah sie mit einer Mischung aus Sympathie und reservierter Gleichgültigkeit an.
    Â»Doch. Frauen auch. Ich gestehe den Frauen ein ebenso gutes oder schlechtes Gedächtnis zu. Und sogar eine größere Fähigkeit, es zu manipulieren.«
    Dorotea Samuelson kniff ihre grünen Augen zusammen.
    Â»Vor allem es zu manipulieren, nicht wahr? Saint-Exupéry schrieb einmal, dass unsere Heimat das Land der Kindheit ist. Das ist richtig, aber nur teilweise. Meine Heimat ist weder das Mädchen, das ich einmal war, noch die Erinnerung an meine Eltern, noch die Zeit, als ich mit meinem Exmann Rocco zusammenlebte, noch das Militär, als es mich verschwinden ließ. Vielleicht ist meine Heimat ein Augenblick, ein Augenblick, an den ich mich nur sporadisch und dann sehr flüchtig erinnere. Er streift mich wie der Flügel eines Engels, wie ein Blatt, viel zu leicht für die Stürme in meinem Inneren. In
Citizen Kane
nennt Orson Welles diesen Moment ›Rosebud‹. Vielleicht ist meine Heimat auch die Erinnerung an einen
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