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Cap San Diego

Cap San Diego

Titel: Cap San Diego
Autoren: Oliver Dierssen
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stellt sein Glas dicht neben meines. Das Meskalin reagiert mit einem wunderschönen, langsamen Lichtreflex, mit dem facettenreichen, orangeroten Blinzeln eines Fahrradspeichenreflektors.
    Statt einer Antwort überlege ich, ob ich es schaffe, aufzustehen und zur Toilette zu gehen, ohne zu auffällig zu schwanken. Aber ich will jetzt nicht weg. Nicht weg von dieser tröstlichen Frisur, die mich mit ihren erstarrten Flammen wärmt. Erinnerungen an bessere Zeiten weckt.
    Vielleicht kann ich so tun, als würde ich Sascha Lobo aufmerksam zuhören, während ich seine Frisur anschaue und warte, dass die angenehmen Bilder wiederkommen, dass die Vergangenheit wieder aufflammt.
    Sascha Lobo wartet einige höfliche Sekunden und übergeht das Ausbleiben meiner Antwort mit einem geübten Schnauzbartlächeln. „Du bist ganz schön besoffen, ja?“
    Er darf es wissen. „Meskalin. Gras. Ziemlich viel Gras.“
    „Ich glaube, du bist doch nicht meine Zielgruppe“, sagt er schließlich und legt mir einen Arm um die Schulter. Ich lehne mich an ihn. Die Schulter unter dem weichen Sakko fühlt sich warm und vertraut an. Sie macht mich traurig.
     
    Sascha Lobo braucht – unter Zuhilfenahme seiner wunderbaren, tröstlichen Schulter - zwanzig Minuten, bis er mein Freund ist. Minuten, in denen ich immer trauriger werde, ein kostbares Gefühl. Er lässt mich seine Frisur anfassen, sie knistert unter den Fingern, und erzählt mir von seiner Welt, von seinem Saschalobodeutschland, und ich höre zu und trinke jetzt Weißwein in kleinen, trockenen Schlucken. Sascha Lobo erzählt von einer Nation, die ihr Wissen friedlich miteinander teilt. Vom Internet, uns auf Augenhöhe verbindet und alle Wunden heilt. Von Google Street View und davon, dass wir einander ansehen sollen, so wie wir sind, von Angesicht zu Angesicht. Kein Grund, sich zu verstecken. Sascha Lobo erzählt davon, dass ich beinahe zu seiner Zielgruppe gehöre: ZDF-Zuschauer um die fünfzig, die Angst haben vor Google Street View.
    Lophophora williamsii, denke ich, der Meskalinkaktus: Lophos bedeutet Haarschopf, phora bedeutet Tragen. Sascha Lobo. Wer Meskalin genommen hat, kennt keine Zufälle. Alles hat einen Sinn.
    Je länger Sascha Lobo spricht und sich die rote Kakteenblüte über seinem Schädel hin und her wiegt, desto trauriger werde ich.
    „Ich habe keine Angst vor Google Street View“, erkläre ich plötzlich und merke, dass ich schreckliche Angst vor Google Street View habe.
    Ich habe Angst, dass dieses Google-Street-View-Auto kommt und die Alleestraße aufnimmt, die leere Auffahrt, das leere Haus, die leeren, frisch bezogenen Polstersessel im gardinenlosen Erdgeschoss. Ich werde oben in meiner Badewanne liegen, stelle ich mir vor, werde das Google-Street-View-Auto vorbeifahren hören, es macht Bilder, und zwei Wochen später schaltet Claudia in Bochum-Hamme das Laptop ein und schaut mir direkt auf die verwaisten Blumenbeete, und Annabelle sitzt in ihrem Züricher Studentenwohnheim und stellt fest, dass ihr Vater es immer noch nicht geschafft hat, das Haus zu verkaufen und endlich so zu wohnen, wie es sich für einen alleinstehenden Endvierziger gehört, der zu viel Gras raucht und zu viel Bier trinkt. Irgendwo zu wohnen, wo keine Teenager mit krummgelesenen Weltenwächter-Jubiläumsausgaben auf dem Bürgersteig herumstehen und auf Autogramme warten. An einem Ort, den die Weltenwächter nicht kennen und den sie nicht kaputt machen können.
    Sascha Lobo rutscht auf dem Sessel hin und her und zieht die Schulter unter meinem verschwitzten Gesicht hervor. Meine Wange glüht. Irgendwie wie ein Beichtstuhl, so ein Saschaloboschulterpolster. Anonym und dunkel, man flüstert seine Geheimnisse rein und wird erleichtert. Aber anders als bei der Beichte lässt die Wirkung nach, wenn die Schulter weg ist. 
    Sascha Lobo erzählt einer Frau vom Verlag, dass er unbedingt auch selbst mal Fantasy schreiben möchte. Sie lächelt ihn schief durchs Weinglas an. 
    „Oder Science-Fiction“, mische ich mich ein. „Aber sie nennen es jetzt Thriller, das verkauft sich besser.“
    „Science-Fiction ist tot“, sagt Sascha Lobo. „Wusstest du das nicht?“
    Ich nicke. Wusste ich.
     
    Ich weiß nicht, wie Sascha Lobo es geschafft hat, fünf Sekunden früher als ich zu beschließen, pinkeln zu gehen. Er stemmt sich aus dem Clubsessel, leert das Weißweinglas auf einen Zug und bleckt die Zähne. Sein Schnauzbart hüpft fröhlich, es ist der Schnauzbart eines Truckers.
    „Du haust nicht ab,
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