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Cap San Diego

Cap San Diego

Titel: Cap San Diego
Autoren: Oliver Dierssen
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will.“ Mein Retter schüttelte den Kopf, als bestünde überhaupt kein Diskussionsbedarf zu der Frage, ob ich gerettet werden musste oder nicht. „Aber Selbstmord ist keine Lösung. Wir haben alle mal einen schlechten Tag.“
    „Ich habe keinen schlechten Tag!“ Das war nicht einmal gelogen. Dieser Tag war so gut oder so schlecht wie jeder andere, seit Claudia nach Bochum gezogen war. Vielleicht sogar eine Spur besser.
    Der Hund meines Retters sieht aus wie ein Lamm. Das Meskalin scheint ihn verwandelt zu haben. Ein freilaufendes Lamm am Hamburger Hafen, wann hat es das zum letzten Mal gegeben?
    Ich versuche, mich hochzurappeln, aber der Fremde hält mich unerbittlich fest, drückt mich auf den feuchten Bordstein. Sein Atem riecht komisch. Irgendwie nach altem Fleisch. „Sterben ist auch keine Lösung“, sagt er.
    „Ich weiß“, sagte ich.
    „Glauben Sie mir, ich kenne mich damit aus. Nicht wenige ... die ich kannte ... haben sich im Meer versenkt.“ Die Pupillen meines Retters, scharf und dunkel wie Reißzwecken, lassen mich innehalten.
    Der letzte Rest des Meskalins haucht jetzt eine schimmernde Porzellanblässe auf die Wangen meines Retters. Er sieht plötzlich nicht mehr aus wie ein Mensch, stelle ich fest, sondern wie ein Engel. Ein Engel! Darum auch das Lamm im Hintergrund. Das Lamm Gottes. (Keine Zufälle mit Meskalin.)
    Ich versuche mein Glück.
    „Soll ich was ändern?“ frage ich ihn, er muss es ja wissen. Wer, wenn nicht er? „Ich meine, mit meinem Leben?“
    Der Obdachlose löst die Finger aus meinem Jackett. Sie hinterlassen ölige Abdrücke. „Wollen Sie denn etwas ändern?“ fragt er und betrachtet mich nachdenklich. Auch das Lamm sieht interessiert zu mir herüber.
    Ich nicke, schließe die Augen.
    Gardinen kaufen , denke ich, meine Tochter anrufen, die Anschlüsse im Gästebad neu machen, einen Kubikmeter Belegexemplare weggeben, meine Tochter anrufen, meine Haare schneiden lassen, kein Meskalin mehr nehmen, kein Psilocybin, am besten gar keine Psychedelika, kein Gras, weniger Wein, viel weniger, den Dachboden ausmisten, da müsste noch Zeug von Claudia sein, nach dem sie seit Jahren fragt. Ich könnte das Saschalobobuch kaufen und es lesen, lesen klingt gut, seit Ewigkeiten kein Buch mehr gekauft, keine alte Platte mehr gehört, keine Reisen außer Lesereisen, das Cabrio nicht mehr gefahren, keine Postkarten mehr verschickt, keine Krawatte gekauft. Meine Tochter nicht angerufen.
    „Ja“, sage ich.
    Das Meskalin schiebt die Gedanken zu einem dichten, flaumigen Bett zusammen, in dem man wunderbar melancholisch sein kann. Ich gestatte mir einen Augenblick kostbarer Ruhe. Da ist sie wieder, die Traurigkeit. Sie flackert in mir auf wie die Saschalobofrisur, dunkelrote Flammen hinter geschlossenen Lidern. Ich halte sie fest, taste blind nach dem Arm des Fremden, nach seiner Schulter, fasse fest zu, während die Traurigkeit aus mir heraustropft wie Saft aus einem angeritzten Pejotekaktus.
    Der Typ könnte mich mal trösten, überlege ich mit geschlossenen Augen, oder fragen was los ist oder was man halt so macht, wenn einem am nächtlichen Elbufer die Schulter vollgeheult wird. Aber er macht nichts. Er scheint nicht einmal zu atmen.
    Nach einigen Sekunden spüre ich einen dumpfen Schmerz im Schienbein, ein Schaben, einen Biss. Der Hund, denke ich, das Lamm, oder was immer es ist.
    Als ich die Augen öffne, ist der Mann verschwunden. Nur das Lamm hockt vor mir, ein Fetzen meiner Jeans zwischen den Zähnen, und beobachtet mich interessiert.       
     
    Fünf Stunden später geht die Sonne auf, und ich sitze im ICE nach Westen. Und dann stehe ich im Vorgarten meines Hauses und warte auf den Wagen von Google Street View. Sollten sie kommen. Sollten sie das Haus filmen. Sollten sie doch in Bochum und Zürich und Berlin sehen, dass ich noch da bin.
    Und während ich warte, kann ich das Blumenbeet machen. Kann das Meskalin im Komposthaufen vergraben. Kann dunkelblaue IKEA-Gardinen vor die leeren Erdgeschossfenster hängen. Kann am nächsten Morgen um sechs, während Sascha Lobo in irgendwelchen Städten in irgendwelchen Hotelbetten liegt und schläft und seinen roten Heiligenschein zerknautscht, vor dem Haus stehen und den kalten, leeren Himmel über Wanne-Eickel betrachten. Keine Sternenwächter zu sehen. Kann morgens um zwanzig nach sechs den Rechner anstellen und zwei, drei Minuten auf den weißen Bildschirm schauen und schreiben, um mir die Zeit zu vertreiben.
    Kann die Finger auf die
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