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Cap San Diego

Cap San Diego

Titel: Cap San Diego
Autoren: Oliver Dierssen
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klar?“ fragt er und kneift mir in den Oberarm.
    Ich nicke.
    Er wankt mit schweren Schritten den schmalen Flur hinab und lässt mich allein mit knapp dreißig müden Literaturmenschen zurück. Sein massiger Körper schickt Erschütterungen durch das Schifferparkett, die, unendlich verstärkt durch das Meskalin, meine kneifende Blase zur Kapitulation zwingen.
    Ich stehe auf und stelle fest, dass meine Füße federleicht sind. Meine Schuhe haben kein Gewicht. Nur meine Blase ist schwer wie eine volle Weinflasche. 
    Während ich Sascha Lobo zum Klo hinterherschwebe, blicke ich an meiner Garderobe herab und überprüfe, ob ich auslaufe. Aber alles ist dicht. Das kann ich noch, denke ich: Fünf Sekunden länger als Sascha Lobo das Wasser halten.
     
    Die Toilette ist winzig. Ein suppenschüsselgroßes Waschbecken, ein hotelzimmerwaschbeckengroßes Pissoir, und eine winzige Klokabine mit Sascha Lobo drin. Von innen verriegelt. Ein mattschwarzer Baumwollhosenträger lugt unter der Kabine hervor.
    Es ist still. Still wie eine leere Badewanne. Menschenleerestill. Sascha Lobo scheint drinnen die Luft anzuhalten. Gehört er zu den Leuten, die auf öffentlichen Toiletten tun, als wären sie nicht da, wenn andere reinkommen?
    Vor dem Pissoir belüfte ich meine Hose und lasse langsam Wasser. Es plätschert sanft aus meiner gedehnten Weißweintrinkerblase, in weichen, angenehmen Schüben fließt es aus mir heraus, während Sascha Lobo auf dem Klo immer noch die Luft anhält.
    Ich öffne die Tür zum Flur, trete zwei, drei Mal auf der Stelle, lasse sie demonstrativ zuklappen und lausche. Da! Das Rascheln von zu enger Kleidung in der Saschalobokabine. Ein konzentriertes Ächzen und Schnaufen. Er presst wieder.
    „Herr Lobo?“ rufe ich mit verstellter Stimme. „Ein Team vom ZDF fragt nach Ihnen.“
    „Ich bin gleich fertig“, antwortet Sascha Lobo mit angestrengter Stimme.
     
    Ich schließe meine Hose, kehre zurück an unseren Tisch, und schiebe das herrenlose Saschalobohardcoverbuch unter mein Jackett. Ohne eine Verabschiedung oder Erklärung verlasse ich die Party und und werfe es vom Deck der Cap San Diego, hinaus in die Großstadtnacht, weit hinab in das kalte Hafenwasser.
    Hier ist kein Trost. 
    Während ich am Elbufer spazieren gehe, kehrt langsam mein Körpergewicht in die Schuhe zurück. Mit schleppenden Schritten spaziere ich den Kaiserkai hinunter bis zu den Magellanterrassen. Ob hier wohl schon mal jemand versucht hat, sich ins Wasser zu stürzen? Man bräuchte vermutlich einen eisernen Willen, um beim Ertrinkenwollen nicht doch rasch zu den Bootsstegen und den Leitern rüberzuschwimmen und rauszuklettern.
    Auf den Zehenspitzen balanciere ich auf der Kaimauer entlang, spähe ins Wasser, halte Ausschau nach einem aufgeschwemmten Saschaloboroman, der an mir vorbeitreibt, auf dem Weg zum Meer, wippe auf den harten Spitzen der Lederschuhe.
    Die wunderbare Traurigkeit, die ich an Sascha Lobos Schulter fühlen konnte, verflüchtigt sich schnell wie das Meskalin, fast so rasch wie das Gras, dessen schalldämpfende, erheiternde Wirkung längst verflogen ist.
    „Springen Sie nicht!“
    Ich habe den Fremden nicht kommen hören. Lautlos ist er aufgetaucht, die Überraschung ist vollkommen auf meiner Seite. Für einen Moment verliere ich das Gleichgewicht, schwanke über dem Hafenbecken wie eine abgesägte Statue, tänzele auf der Kaimauer.
    Eine knochige Hand greift mich am Jackett, umklammert meine Schulter, reißt mich zurück auf das Festland, der Fremde packt mich, zieht mich zu Boden. „Springen Sie nicht!“ zischt er mir ins Gesicht. Sein Atem riecht nach alter Fleischsuppe.
    Mein Retter ist hässlich wie die Nacht, in der ich entschwinden wollte. Ein Obdachloser, stelle ich fest, ein zerlumpter, hässlicher Endzwanziger, viel zu dünn für die Jahreszeit gekleidet. Die Ärmel seines fleckigen Polohemdes geben den Blick auf magere, tätowierte Arme frei. Dazu Augen, die noch röter waren als meine.
    Harte Drogen sind im Spiel, eindeutig, dafür habe ich inzwischen einen Blick. Wie tief muss man gesunken sein, um von solchen Leuten gerettet zu werden?
    „Springen Sie nicht“, zischt er wieder. Beim Sprechen zieht er die Lippen vor die Zähne.
    „Ich ... wollte nicht springen“, sage ich und glaube mir. „Wirklich nicht.“
    Mein Retter beäugt mich nachdenklich. Neben ihm, unter einer erloschenen Straßenlaterne, hockt ein riesiger weißer Hund ohne Leine und beobachtet mich.
    „Ich erkenne, wenn einer springen
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