Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
Vom Netzwerk:
einstecken.« Er öffnete die Ledertasche, und darin sah ich mehrere Glasgefäße, einen Insektenführer, sein Proviantpaket und eine kleine silberne Flasche. Großpapa nahm mein Notizbuch und den Stift und packte beides dazu. Ich bückte mich nach dem Schmetterlingsnetz und warf es mir über die Schulter.
    »Sind wir soweit?«, fragte er und bot mir den Arm, so wie ein Herr, der eine Dame zu Tisch führt. Ich schob meinen Arm durch seinen. Er war so viel größer als ich, dass wir auf dem Weg die Treppe hinunter heftig schwankten, also ließ ich seinen Arm los und schob meine Hand in seine. Die Handfläche war wettergegerbt und voller Schwielen, die Nägel waren dick und gebogen, eine wundersame Verbindung aus Leder und Horn. Großpapa sah erst überrascht aus, dann freute er sich, jedenfalls schien es mir so, aber ganz sicher war ich mir nicht. Auf jeden Fall hielt er meine Hand fest umschlossen.
    Wir suchten uns unseren Weg quer über die Wiese zum Fluss. Immer wieder blieb Großpapa stehen und betrachtete ein Blatt, einen Stein, einen Erdhaufen – Dinge, die ich nicht so furchtbar interessant fand. Interessant war allerdings, wie er sich jedes Mal bückte und jeden Gegenstand zuerst einmal ganz genau betrachtete, bevor er langsam, aber entschlossen eine Hand danach ausstreckte. Mit allem, was er berührte, ging er ganz behutsam um, jeden Käfer legte er genau dorthin zurück, wo er ihn aufgehoben hatte, jedes Erdhäufchen schob er zurück an seinen Platz. Ich stand da und hielt das Schmetterlingsnetz in Bereitschaft; es juckte mich schon in den Fingern, irgendein Exemplar damit einzufangen.
    »Hast du gewusst, Calpurnia, dass von allen lebenden Organismen, die der Mensch kennt, die Klasse der Insekten die größte ist?«
    »Großpapa, niemand nennt mich Calpurnia, außer Mutter, und das auch nur, wenn es richtig großen Ärger gibt.«
    »Warum denn nicht, um Himmels willen? Es ist ein wirklich schöner Name. Die vierte Frau von Plinius dem Jüngeren, die, die er aus Liebe geheiratet hat, hieß Calpurnia, und von ihm sind uns einige der großartigsten Liebesbriefe aller Zeiten erhalten. Außerdem gibt es einen Baum der Gattung Calpurnia , einen hauptsächlich in Afrika beheimateten, sehr nützlichen Goldregen. Schließlich hieß auch die Frau Julius Caesars so, wie bei Shakespeare erwähnt. Und so könnte ich noch lange weitermachen.«
    »Oh – das wusste ich nicht.« Warum hatte mir nie jemand davon erzählt? Außer Harry trugen alle meine Brüder die Namen stolzer texanischer Helden, von denen viele in der Schlacht von Alamo ihr Leben gelassen hatten. (Harry war nach einem unverheirateten Großonkel benannt, der viel Geld, aber keine Erben hatte.) Ich selbst war nach Mutters älterer Schwester benannt. Es hätte vermutlich schlimmer kommen können: Die jüngeren Schwestern hießen Agatha, Sophronia und Vonzetta. Sogar viel schlimmer kann es einen treffen – wie die Tochter des Gouverneurs Hogg, Ima. Ima Hogg – die Ärmste! Laut ausgesprochen klang der Name nämlich wie I’m a hog – und das heißt nichts anderes als ›Ich bin ein Schwein.‹ Kannst du dir das vorstellen? Ich fragte mich, ob ihre Schönheit und ihr großer Reichtum ausreichten, um sie vor einem Leben voller Seelenqualen zu bewahren. Aber vielleicht lacht einen ja niemand aus, wenn man nur genug Geld besitzt. Und mein Name? Calpurnia! So lange ich lebte, hatte ich diesen Namen gehasst – warum überhaupt? Es war ein guter Name, ein Name wie Musik , wie ein Gedicht . Es war … es war einfach unfassbar ärgerlich , dass niemand in der Familie sich je die Mühe gemacht hatte, mir irgendetwas über meinen Namen zu erzählen.
    Also Calpurnia – warum auch nicht?
    Wir drangen tiefer in den Wald und das Unterholz ein. Obwohl er so alt war und eine Brille trug, sahen Großpapas Augen viel mehr als meine. Wo ich nichts weiter sah als faulendes Laub und trockene Zweige, sah er reglose Eidechsen, getarnte Käfer, unsichtbare Spinnen.
    »Sieh mal da«, sagte er, »einer aus der Familie der Scarabaeidae, vermutlich ein Cotinis texana . Der Pfirsichkäfer oder auch Feigenesserkäfer. Höchst ungewöhnlich, einen von ihnen in einer Dürreperiode zu finden. Fang ihn mit dem Netz ein, aber ganz behutsam.«
    Ich schwenkte das Netz, und schon hatte ich den Käfer. Großpapa nahm ihn in die Hand, und wir betrachteten ihn gründlich. Er war etwa einen Zoll lang, mittelgrün und ansonsten völlig unauffällig. Großpapa drehte ihn auf den Rücken, und ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher