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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Großpapa. »Du solltest es zu schätzen wissen, Calpurnia. Es kann gut sein, dass du in deinem ganzen Leben kein zweites siehst.«
    Dieses Nest war so ungeheuer kunstvoll, als hätten die Feen aus meinen Kindergeschichten es gemacht. Fast hätte ich den Gedanken laut ausgesprochen, konnte die Worte aber gerade noch hinunterschlucken. Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft sagten solche Dinge nicht.
    »Aber wie bringen wir es heil nach Hause?«, fragte ich. Ich hatte schon Angst, es zu berühren.
    »Erst einmal tun wir es behutsam in eins unserer Gläser. In der Bibliothek habe ich ein eckiges Glasgefäß, das dürfte gerade die richtige Größe haben. Du kannst es in deinem Zimmer ausstellen. Es wäre doch ein Jammer, es in einer Schublade zu verstecken.«
    Die Bibliothek war so sehr Großpapas Reich, dass selbst meine Eltern sie nur selten betraten. SanJuanna hatte die Erlaubnis, dort Staub zu wischen, aber auch das nur alle Vierteljahre einmal. Normalerweise hielt Großpapa die Tür zur Bibliothek auch verschlossen. Was er allerdings nicht wusste: Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn keine Erwachsenen in der Nähe waren, hievten meine Brüder sich manchmal gegenseitig durch das Oberlicht über der Tür in die Bibliothek. Mein zweitältester Bruder, Sam Houston, hatte es einmal geschafft, sich Mathew Bradys Buch mit Fotografien von den Schlachtfeldern des Bürgerkrieges anzusehen, anschließend erzählte er uns atemlos von gemetzelten Pferden im Schlamm und toten Männern, die keine Schuhe mehr trugen und den Blick zum Himmel hoch richteten.
    Gegen fünf Uhr waren wir zurück. Jim Bowie und Ajax kamen zur Begrüßung auf uns zugerast, sobald sie uns in der Einfahrt entdeckten.
    »Callie, du steckst wirklich in der Patsche«, rief J. B. mir außer Atem entgegen. »Mama ist sehr böse auf dich.« Er beachtete Großpapa gar nicht. »Mama sagt, du hast heute nicht Klavier geübt.«
    Das stimmte. Unsere Klavierstunden waren wieder aufgenommen worden, und ich wusste, ich würde meine Übungen nachholen müssen, und zur Strafe noch eine halbe Stunde zusätzlich spielen. So lautete die Regel, doch das war mir egal. Dieser Tag war es wert gewesen. Dieser Tag wäre selbst tausend Extrastunden am Klavier wert gewesen.
    Wir gingen ins Haus, und Großpapa setzte das Kolibrinest in ein kleines Glasgefäß und gab es mir. Dann überließ ich ihn seinen Arbeiten in der Bibliothek und ging zu Mutter, um meine Sache vor ihr zu vertreten – doch sie blieb hart.
    Ich schaffte es, die zusätzliche Übungszeit am Klavier noch vor dem Essen unterzubringen, und spielte mit leichtem Herzen, beflügelt und sicher, wenn ich das von mir selbst sagen darf. Erschöpft und freudig erregt zugleich ging ich später schlafen. Auf der Frisierkommode, gleich neben meinen Haarnadeln und Schleifen, stand in seinem blitzblanken Glasbehälter das Kolibrinest.
    Eine Woche später sah meine Morgenliste so aus:
     
    5.15 Uhr, ein schöner, klarer Tag, Südwind
    7 Baumwollschwanzkaninchen, 1 Feldhase
    1 Stinktier (Jungtier, offensichtlich verlassen)
    1 Opossum (linkes Ohr eingeknickt)
    5 Katzen (3 eigene, 2 wilde)
    1 Schlange (Ringelnatter, harmlos)
    1 Eidechse (grün, dieselbe Farbe wie Lilienstängel, schwer zu entdecken)
    2 Rotschwanzbussarde
    1 Mäusebussard
    3 Kröten
    2 Kolibris (Rufus?)
    nicht gezählt: verschiedene Odonata, Hymenoptera, Arachnida
     
    Ich zeigte Großpapa meine Liste, und er nickte anerkennend. »Es ist erstaunlich, was man alles zu sehen bekommt, wenn man einfach nur still dasitzt und schaut.«

 
     
     
    Drittes Kapitel
     
    DIE OPOSSUMKRIEGE
     
    Sämlinge von derselben Frucht oder Junge von einem Wurfe weichen oft weit voneinander ab, obwohl die Jungen und die Alten … allem Anschein nach genau denselben Lebensbedingungen ausgesetzt waren …
     
     
    Die Opossumkriege hatten wieder begonnen und tobten um die hintere Veranda herum – soweit tobten der richtige Ausdruck ist für diese von Passivität und Nichtstun geprägten Kriege. Aber sie waren ein ausgezeichnetes Objekt für meine Studien, denn der Kampf verlief Abend für Abend exakt gleich: Ein staubiges, stämmiges Opossum kam unter dem Haus hervor, um sich auf die Suche nach Küchenabfällen und Sonstigem für sein nächtliches Frühstück zu begeben. Unweigerlich wurde es dabei von einer der im Freien lebenden Katzen überrascht, die die hintere Veranda als ihr Reich ansah und dort regelmäßig auf Patrouille ging. Die Katze und das Opossum, beide
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