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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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nannte. Sie schlossen sich zusammen, um die weißen Flecken auf der Weltkarte zu füllen und ihr Land aus dem Morast von Aberglauben und rückwärts gewandtem Denken herauszuziehen, in dem es seit dem Bürgerkrieg verharrte. All das waren aufregende Neuigkeiten aus einer Welt fern von Spitzentaschentüchern und Fingerhüten, geduldig übermittelt unter einem Baum, inmitten von träge umherschwirrenden Bienen und Wildblumen, die in der Hitze die Köpfe hängen ließen.
    Eine Stunde nach der anderen verging, über uns zog die Sonne weiter (oder, genauer gesagt: Wir zogen unter der Sonne weiter, indem wir uns langsam von der Tagseite zur Nachtseite weiterbewegten). Großpapa und ich teilten uns ein dick mit Käse und Zwiebeln belegtes Brot, ein Stück Pekannusskuchen und das Wasser aus seiner Feldflasche. Anschließend trank er ein paar kleine Schlucke aus seiner flachen silbernen Taschenflasche, und dann hielten wir ein Schläfchen, während um uns herum die Insekten summten und zirpten und der gescheckte Schatten immer weiter wanderte. Als wir aufwachten, tauchten wir unsere Taschentücher in den Fluss, um uns zu erfrischen, dann bahnten wir uns weiter einen Weg am Ufer entlang. Auf Großpapas Anweisung hin fing ich verschiedene seltsame Lebewesen, krabbelnde, schwimmende oder fliegende, die wir alle gründlich untersuchten. Behalten haben wir aber nur ein Insekt, das haben wir in ein Einmachglas getan, in dessen Deckel Löcher gebohrt waren. Diese Gläser kannte ich, sie kamen aus unserer Küche. (Viola beschwerte sich ständig bei Mutter darüber, dass ihre Gläser verschwanden, und Mutter verdächtigte meine Brüder, die, wie sich nun herausstellte, unschuldig waren, zum ersten Mal seit Menschengedenken.) Auf dem Glas klebte ein ordentliches kleines Etikett. Nach Anweisung schrieb ich Datum und Uhrzeit unseres Funds darauf, aber was ich als Ort angeben sollte, wusste ich nicht.
    »Überleg mal, wo wir sind«, sagte Großpapa. »Kannst du den Ort so exakt beschreiben, dass du ihn, wenn nötig, wiederfindest?«
    Ich prüfte, in welchem Winkel das Sonnenlicht durch die Bäume fiel, und erinnerte mich, wie weit wir etwa gegangen waren. »Kann ich schreiben: eine halbe Meile westlich vom Tate House, nahe der dreifach gegabelten Eiche?«
    Ja, so war es in Ordnung. Wir wanderten weiter und stießen auf einen der häufigen, mit Kotpillen übersäten Wildpfade. Wir setzten uns und warteten schweigend. Nach einer Weile kam eine Weißwedelhirschkuh vorüber, so nah, ich hätte sie fast mit der Hand berühren können. Wie war es möglich, dass ein so großes Tier sich in dem knackenden Unterholz so geräuschlos bewegte? Sie wandte den langen Hals zur Seite und sah mich direkt an, und zum ersten Mal verstand ich, was mit dem Begriff »rehäugig« gemeint war. Die tief liegenden braunen Augen waren riesig, ihr Blick sanft und schmelzend. Ihre großen Ohren zuckten unabhängig voneinander in unterschiedlichen Richtungen. Sonnenlicht traf auf die stark durchbluteten Ohren und ließ sie leuchtend rosa erscheinen. Ich dachte, sie sei das wundervollste Tier, das ich je gesehen hatte, bis Sekunden später mit langsamen Bewegungen ihr geschecktes Kitz in unserem Blickfeld erschien. Mit seinem süßen Gesicht, dem leicht nach innen gewölbten Nasenbein, den lächerlich zerbrechlichen Beinen, dem noch flaumigen Fell eroberte es mein Herz im Sturm. Am liebsten hätte ich es in die Arme genommen, um es vor seinem unausweichlichen Schicksal zu schützen – den Kojoten, dem Verhungern, den Jägern. Wie konnten Menschen ein so wunderschönes Tier erschießen? Und dann tat dieses Kitz etwas ganz Wunderbares: Es winkelte erst die Vorderläufe, dann die Hinterläufe an, dann sank es zu Boden und … verschwand . Die weißen Flecken, die über das braune Rückenfell verteilt waren, ahmten das gefleckte Licht so vollkommen nach, dass dort, wo eine Sekunde zuvor noch ein Rehkitz gelegen hatte, auf einmal nichts als Unterholz zu sein schien.
    Geschlagene fünf Minuten saßen Großpapa und ich reglos da, dann packten wir stumm unsere Sachen zusammen und gingen weiter. Wir folgten dem Fluss, bis die Schatten lang wurden, dann schlugen wir einen Bogen durchs Gebüsch und machten uns auf den Heimweg. Noch etwas entdeckte Großpapa auf dem Rückweg, ein extrem seltenes, zartes Ding: ein verlassenes Kolibrinest, kleiner als ein Eierbecher, fein und zerbrechlich, meisterhaft gewoben.
    »Was für ein außergewöhnliches Glück wir haben!«, sagte
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