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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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ausgeblasenes Straußenei auf einem holzgeschnitzten Ständer, ein Mikroskop, das in einem Etui aus genarbtem Leder lag, ein Walzahn, in den das Bild einer üppigen Dame graviert war, deren Rundungen von ihrem Korsett kaum zusammengehalten wurden. Die Familienbibel sowie ein schweres Lexikon mit dem dazugehörigen Vergrößerungsglas lagen Seite an Seite mit einem in roten Samt eingebundenen Album mit steifen Porträts meiner Vorfahren. So – welche Ermahnung würde mir nun zuteil werden, die biblische oder die zum Thema »Enttäuschung für die Vorfahren«? Ich wartete ab, während er seine Entscheidung traf. Mein Blick wanderte an den Wänden entlang, die mit flachen Schachteln bedeckt waren, in denen erschreckende Stabheuschrecken und leuchtend bunte Schmetterlinge ausgestellt waren. Unter jedem fröhlichen Farbfleck stand in der gestochenen Handschrift meines Großvaters der wissenschaftliche Name geschrieben. Ich vergaß mich und ging auf die Regale zu, um die Exponate aus der Nähe zu betrachten.
    »Bär«, sagte Großvater.
    Hmm?, dachte ich.
    »Pass auf, der Bär«, sagte er, doch da stolperte ich bereits über das höhnisch grinsende, offene Maul an einem schwarzen Bärenfell. In dem Dämmerlicht stellten die Fangzähne tatsächlich eine Falle da, wenn man nicht achtsam war.
    »Ja, stimmt. Bär, Sir.«
    Großvater löste einen winzigen Schlüssel von seiner Uhrenkette und schloss damit die hohe Glasvitrine auf, in der sich noch mehr Bücher, ausgestopfte Vögel, Tiere in Alkohollösung und andere Kuriositäten befanden. Ich schlich hinüber, um einen besseren Blick auf diese unwiderstehliche Ausstellung erhaschen zu können. Ein missgestaltetes Gürteltier fiel mir ins Auge, bucklig, warzig, klumpig, ganz offensichtlich von einem völlig unfähigen Amateur ausgestopft. Wieso verwahrte Großvater das in seiner Vitrine? Selbst ich hätte das besser hinbekommen. Daneben stand ein Präparateglas, das bestimmt seine zwanzig Liter fasste, und darin lag das seltsamste Tier, das ich je gesehen hatte. Eine dicke, unförmige Gestalt mit zahlreichen Armen, zwei großen Glotzaugen, die vom Glas zusätzlich zu untertellergroßen Scheiben verzerrt wurden. Stoff für Albträume. Was um alles in der Welt war das? Ich ging näher heran.
    Großvater streckte die Hand nach einem Stapel Bücher aus. Ich sah Dantes Inferno neben einem Band mit dem Titel Wissenschaftliche Grundlagen der Luftschifffahrt . Eine Studie zur Fortpflanzung bei Säugetieren lag neben einer Abhandlung über den weiblichen Akt . Großvater nahm einen in sattes grünes Leder eingebundenen Band mit feinem Goldschnitt heraus. Auch wenn ich kein Staubkörnchen darauf entdecken konnte, polierte er den Einband mit dem Ärmel. Feierlich beugte er sich zu mir herunter und hielt mir das Buch hin. Ich schaute darauf. Die Entstehung der Arten. Hier, in meinem eigenen Haus! Mit beiden Händen nahm ich den Band entgegen. Großvater lächelte.
    So begann meine Beziehung zu meinem Großpapa.

 
     
     
    Zweites Kapitel
     
    DEN TAG
    DURCHMESSEN
     
    Die Gesetze, welche die Vererbung der Charaktere regeln, sind zum größten Teile unbekannt, und niemand vermag zu sagen, woher es kommt, … dass das Kind zuweilen zu gewissen Charakteren des Großvaters … zurückkehrt
     
     
    Drei Tage später schlich ich mich ganz früh nach unten und zur Haustür hinaus, bevor meine Brüder den morgendlichen Frieden wie eine Lawine überrollen konnten. Ich streute eine Handvoll Sonnenblumenkerne in unsere Einfahrt, dreißig Schritte vom Haus entfernt, um die Vögel anzulocken, dann setzte ich mich auf ein Kissen, das ich mir aus der Abstellkammer genommen hatte. Alles, was sich bewegte, kam auf eine Liste, die ich in meinem roten Notizbuch anlegte. Machten Naturforscher das nicht so?
    Einer der Sonnenblumenkerne hüpfte über die Schieferplatten des Fußwegs zum Haus. Sehr seltsam! Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich um eine winzige Kröte handelte, kaum mehr als einen viertel Zoll lang, die mit gewaltigen Sprüngen einem flüchtenden Tausendfüßler nacheilte, der seinerseits kaum größer als ein Faden war. Beide gaben ihr Bestes, bis sie irgendwann im Gras verschwanden. Dann flitzte eine Wolfsspinne, erschreckend groß und ebenso haarig, über den Kies. Entweder jagte sie einem kleineren Tier hinterher, oder sie selbst wurde von einem größeren gejagt – ich konnte es nicht feststellen. Vermutlich spielten sich unablässig Millionen kleinerer Dramen in
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