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Butenschön

Butenschön

Titel: Butenschön
Autoren: Marcus Imbisweiler
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heikel?«
    »Raten Sie mal, Herr Koller. Butenschön wird 100. Wann hat er wohl seine Karriere begonnen?«
    »Im Dritten Reich?«
    »Treffer. Nach seiner Rolle unter den Nazis wurde lange nicht gefragt. Erst vor gut 20 Jahren kamen Gerüchte auf, er habe sich als junger Wissenschaftler die Hände schmutzig gemacht. Forschungen im Geist der Rassenpolitik, direkte Zusammenarbeit mit Naziverbrechern, vielleicht sogar Menschenversuche. Seitdem wankt das Denkmal Butenschön. Aber es fiel nicht. Nach langem Hin und Her setzte die Max-Planck-Gesellschaft eine Historikerkommission ein, die das Lebenswerk ihres Ehrenvorsitzenden, vor allem aber sein Verhalten im Dritten Reich aufarbeiten sollte. Diese Kommission kam zu dem Ergebnis, dass er unter moralischen Gesichtspunkten eine fragwürdige Rolle gespielt, sich aber keines konkreten Vergehens schuldig gemacht habe.«
    »Also nichts mit Menschenversuchen?«
    »Nein. Auch keine sonstigen inhumanen Experimente. Er machte unter den Nazis Karriere, ohne sich an ihren Gräueltaten zu beteiligen. In dem Kommissionsbericht stehen viele unschöne Dinge über den Mann, über seinen Machtinstinkt, seinen Corpsgeist, sein Patriarchentum, aber im entscheidenden Punkt wird er reingewaschen.«
    »Klingt immer noch harmlos.« Ich sah Deininger in einer kleinen Abstellkammer verschwinden, in der er geräuschvoll herumhantierte.
    »Es gibt da eine offene Stelle. Die Aktenlage im Fall Butenschön ist ungewöhnlich günstig, die Kommission schwamm nur so in Dokumenten. Bloß aus den letzten Kriegsjahren fehlt ein Regalmeter. Und der blieb trotz intensivster Recherche bis heute verschollen.«
    »Wurde er beseitigt?«
    »Möglich. Versteckt, vernichtet, verlorengegangen   –   da streiten sich die Experten. Und sie werden sich bis in alle Ewigkeit streiten.« Sie machte eine Kunstpause. »Vielleicht aber auch nicht.«
    »Das heißt?«
    »Könnte sein, dass die Dokumente wieder aufgetaucht sind.«
    Ich wartete, und als sie nicht fortfuhr, drängte ich: »Geht es ein bisschen genauer?«
    »Ungern. Sie müssen mir versprechen, mit keinem Menschen darüber zu reden.«
    »Kein Problem.«
    »Ich meine das ernst, Herr Koller. Nicht wegen des Brands gestern Abend. Sondern weil meine wissenschaftliche Karriere daran hängt. Wenn andere von dieser Entwicklung erfahren und damit an die Öffentlichkeit gehen, kann ich meine Promotion neu schreiben. Oder sie gleich in den Ofen schmeißen. Also, ich verlasse mich auf Sie: Kein Wort verlässt diesen Raum.«
    »Versprochen.«
    Sie nickte. »Man hat Kontakt zu mir aufgenommen, aus dem Ausland. Ich bekam einige Papiere zugeschickt, die offenbar aus den verschwundenen Butenschön-Akten stammen. Natürlich habe ich alles daran gesetzt, auch den Rest zu erhalten. Wobei unklar ist, welchen Umfang dieser Rest hat und woraus er genau besteht.«
    »Und? Kriegen Sie ihn?«
    Sie wiegte den Kopf. »Da möchte ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Aber es sieht nicht schlecht aus.«
    »Und welche Auswirkungen wird das auf die Butenschön-Biografie haben?«
    »Auch das ist schwer zu sagen. Vielleicht werden die Ergebnisse des Kommissionsberichts voll und ganz bestätigt. Das wäre schon mal eine wichtige Auswirkung.«
    »Gut.« Ich überlegte. »Ihr Mann ist informiert?«
    »Ja«, nickte sie und versuchte erst gar nicht, ihr Bedauern über diese Tatsache zu verbergen. »Er sieht in dem gestrigen Brandanschlag einen Einschüchterungsversuch aus dem Umfeld Butenschöns. Das ist schon deshalb Unsinn, weil niemand weiß, was in den Akten steht.«
    »Butenschön selbst schon.«
    »Herr Koller, der Mann wird 100! Wie soll er wissen, was in fast 70 Jahre alten Dokumenten festgehalten ist? Und wenn es da um ein Kapitalverbrechen ginge, hätten wir Historiker das längst aus anderen Zusammenhängen erschließen können. Wie soll man sich das denn vorstellen: dass ein uralter Mann ein paar harte Jungs losschickt, um eine Wissenschaftlerin mundtot zu machen?«
    »Dieser uralte Mann hat eine große Familie«, ließ sich Deininger aus der Küche vernehmen. Er schloss die Tür zur Kammer hinter sich. »Und er hat die gerissensten Rechtsanwälte der Stadt.«
    »Und du die blühendste Fantasie der Stadt!« Sie stand auf, wütend, ging hinüber zu einer der Zimmerpflanzen neben der Terrassentür und begann, sie mit einer kleinen Plastikkanne zu gießen. Übersprungshandlung nennt man so etwas. Soll sogar bei Wissenschaftlerinnen vorkommen.
    »Interessante Geschichte«, sagte ich
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