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Buddenbrooks

Buddenbrooks

Titel: Buddenbrooks
Autoren: Thomas Mann
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besondere Umstände erschwert. Gesetzt, zum Beispiel, daß die Anfangssymptome der Krankheit, Verstimmung, Mattigkeit, Appetitlosigkeit, unruhiger Schlaf, Kopfschmerzen, schon meistens vorhanden waren, als der Patient noch, die Hoffnung der Seinen, in völliger Gesundheit umherging? Daß sie sich, auch bei plötzlich verstärktem Auftreten, kaum als etwas Außergewöhnliches bemerkbar machen? – Ein tüchtiger Arzt von soliden Kenntnissen, wie, um einen Namen zu nennen, Doktor Langhals, der hübsche Doktor Langhals, mit den kleinen, schwarzbehaarten Händen, wird gleichwohl bald in der Lage sein, die Sache bei ihrem richtigen Namen zu nennen, und das Erscheinen der fatalen roten Flecke auf der Brust und dem Bauche giebt ja völlige Gewißheit. Er wird über die Maßregeln, die zu treffen, die Mittel, die anzuwenden, nicht in Zweifel sein. Er wird für ein möglichst großes, oft gelüftetes Krankenzimmer sorgen, dessen Temperatur siebenzehn Grad nicht übersteigen darf. Er wird auf äußerste Sauberkeit dringen und auch durch immer erneutes Ordnen des Bettes den Körper, solange dies irgend möglich, – in gewissen Fällen ist es nicht lange möglich – vor dem »Wundliegen« zu schützen suchen. Er wird eine beständige Reinigung der Mundhöhle mit nassen Leinwandläppchen veranlassen, wird, was die Arzneien betrifft, sich einer Mischung von Jod und Jodkalium bedienen, Chinin und Antipyrin verschreiben und, vor Allem, da der Magen und die Gedärme schwer in Mitleidenschaft gezogen sind, eine äußerst leichte und äußerst kräftigende Diät verordnen. Er wird das zehrende Fieber durch Bäder bekämpfen, durch Vollbäder, in {831} die der Kranke oft, jede dritte Stunde, ohne Unterlaß, bei Tag und Nacht hineinzutragen ist, und die vom Fußende der Wanne aus langsam zu erkälten sind. Und nach einem jeden Bade wird er rasch etwas Stärkendes und Anregendes, Cognac, auch Champagner verabreichen …
    Alle diese Mittel aber gebraucht er durchaus aufs Geratewohl, für den Fall gleichsam nur, daß sie überhaupt von irgend einer Wirkung sein können, unwissend darüber, ob ihre Anwendung nicht jedes Wertes, Sinnes und Zweckes entbehrt. Denn Eines weiß er nicht, was Eine Frage betrifft, so tappt er im Dunkel, über Ein Entweder-Oder schwebt er bis zur dritten Woche, bis zur Krisis und Entscheidung in völliger Unentschiedenheit. Er weiß nicht, ob die Krankheit, die er »Typhus« nennt, in diesem Falle ein im Grunde belangloses Unglück bedeutet, die unangenehme Folge einer Infektion, die sich vielleicht hätte vermeiden lassen, und der mit den Mitteln der Wissenschaft entgegenzuwirken ist – oder ob sie ganz einfach eine Form der Auflösung ist, das Gewand des Todes selbst, der ebenso gut in einer anderen Maske erscheinen könnte, und gegen den kein Kraut gewachsen ist.
    Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt:
    In die fernen Fieberträume, in die glühende Verlorenheit des Kranken wird das Leben hineinrufen mit unverkennbarer, ermunternder Stimme. Hart und frisch wird diese Stimme den Geist auf dem fremden, heißen Wege erreichen, auf dem er vorwärts wandelt, und der in den Schatten, die Kühle, den Frieden führt. Aufhorchend wird der Mensch diese helle, muntere, ein wenig höhnische Mahnung zur Umkehr und Rückkehr vernehmen, die aus jener Gegend zu ihm dringt, die er so weit zurückgelassen und schon vergessen hatte. Wallt es dann auf in ihm, wie ein Gefühl der feigen Pflichtversäumnis, der Scham, der erneuten Energie, des Mutes und der Freude, der Liebe und Zugehörigkeit zu dem spöttischen, bunten und bru {832} talen Getriebe, das er im Rücken gelassen: wie weit er auch auf dem fremden, heißen Pfade fortgeirrt sein mag, er wird umkehren und leben. Aber zuckt er zusammen vor Furcht und Abneigung bei der Stimme des Lebens, die er vernimmt, bewirkt diese Erinnerung, dieser lustige, herausfordernde Laut, daß er den Kopf schüttelt und in Abwehr die Hand hinter sich streckt und sich vorwärts flüchtet auf dem Wege, der sich ihm zum Entrinnen eröffnet hat … nein, es ist klar, dann wird er sterben. –

4.
    »Es ist nicht recht, es ist nicht recht, Gerda!« sagte das alte Fräulein Weichbrodt wohl zum hundertsten Male bekümmert und vorwurfsvoll. Sie nahm heute Abend im Wohnzimmer ihrer ehemaligen Schülerin einen Sofaplatz in dem Kreise ein, der von Gerda Buddenbrook, Frau Permaneder, ihrer Tochter Erika, der armen Klothhilde und den drei Damen Buddenbrook aus der Breitenstraße um den runden
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