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Buddenbrooks

Buddenbrooks

Titel: Buddenbrooks
Autoren: Thomas Mann
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an, sie schlossen sich zusammen, sie wurden zur Melodie, und der Augenblick kam, da sie wie ein inbrünstig und flehentlich hervortretender Gesang des Bläserchores stark und demütig zur Herrschaft gelangten. Das haltlos Drängende, das Wogende, Irrende und Entgleitende war verstummt und besiegt, und in unbeirrbar einfachem Rhythmus erscholl dieser zerknirschte und kindlich betende Choral … Mit einer Art von Kirchenschluß endete er. Eine Fermate kam, und eine Stille. Und siehe, plötzlich war, ganz leise, in einer Klangfarbe von mattem Silber, das erste Motiv wieder da, diese armselige Erfindung, diese dumme oder geheimnisvolle Figur, dieses süße, schmerzliche Hinsinken von einer Tonart in die andere. Da entstand ein ungeheurer Aufruhr und wild erregte Geschäftigkeit, beherrscht von fanfarenartigen Accenten, Ausdrücken einer wilden Entschlossenheit. Was geschah? Was war in Vorbereitung? Es scholl wie Hörner, die zum Aufbruch riefen. Und dann trat etwas ein wie eine Sammlung und Konzentration, festere Rhythmen fügten sich zusammen, und eine {826} neue Figur setzte ein, eine kecke Improvisation, eine Art Jagdlied, unternehmend und stürmisch. Aber es war nicht fröhlich, es war im Innersten voll verzweifelten Übermuts, die Signale, die darein tönten, waren gleich Angstrufen, und immer wieder war zwischen Allem, in verzerrten und bizarren Harmonieen, quälend, irrselig und süß, das Motiv, jenes erste, rätselhafte Motiv zu vernehmen … Und nun begann ein unaufhaltsamer Wechsel von Begebenheiten, deren Sinn und Wesen nicht zu erraten war, eine Flucht von Abenteuern des Klanges, des Rhythmus und der Harmonie, über die Hanno nicht Herr war, sondern die sich unter seinen arbeitenden Fingern gestalteten, und die er erlebte, ohne sie vorher zu kennen … Er saß, ein wenig über die Tasten gebeugt, mit getrennten Lippen und fernem, tiefem Blick, und sein braunes Haar bedeckte in weichen Locken seine Schläfen. Was geschah? Was wurde erlebt? Wurden hier furchtbare Hindernisse bewältigt, Drachen getötet, Felsen erklommen, Ströme durchschwommen, Flammen durchschritten? Und wie ein gellendes Lachen oder wie eine unbegreiflich selige Verheißung schlang sich das erste Motiv hindurch, dies nichtige Gebilde, dies Hinsinken von einer Tonart in die andere … ja, es war, als reize es auf zu immer neuen, gewaltsamen Anstrengungen, rasende Anläufe in Oktaven folgten ihm, die in Schreie ausklangen, und dann begann ein Aufschwellen, eine langsame, unaufhaltsame Steigerung, ein chromatisches Aufwärtsringen von wilder, unwiderstehlicher Sehnsucht, jäh unterbrochen durch plötzliche, erschreckende und aufstachelnde Pianissimi, die wie ein Weggleiten des Bodens unter den Füßen und wie ein Versinken in Begierde waren … Einmal war es, als ob fern und leise mahnend die ersten Akkorde des flehenden, zerknirschten Gebetes vernehmbar werden wollten; alsbald aber stürzte die Flut der empordrängenden Kakophonieen darüber her, die sich zusammenballten, sich vorwärts wälzten, zurückwichen, aufwärtsklommen, ver {827} sanken und wieder einem unaussprechlichen Ziele entgegenrangen, das kommen mußte, nun kommen mußte, in diesem Augenblick, an diesem furchtbaren Höhepunkt, da die lechzende Drangsal zur Unerträglichkeit geworden war … Und es kam, es war nicht mehr hintanzuhalten, die Krämpfe der Sehnsucht hätten nicht mehr verlängert werden können, es kam, gleichwie wenn ein Vorhang zerrisse, Thore aufsprängen, Dornenhecken sich erschlössen, Flammenmauern in sich zusammensänken … Die Lösung, die Auflösung, die Erfüllung, die vollkommene Befriedigung brach herein, und mit entzücktem Aufjauchzen entwirrte sich Alles zu einem Wohlklang, der in süßem und sehnsüchtigem Ritardando sogleich in einen anderen hinübersank … es war das Motiv, das erste Motiv, was erklang! Und was nun begann, war ein Fest, ein Triumph, eine zügellose Orgie ebendieser Figur, die in allen Klangschattierungen prahlte, sich durch alle Oktaven ergoß, aufweinte, im Tremolando verzitterte, sang, jubelte, schluchzte, angethan mit allem brausenden, klingelnden, perlenden, schäumenden Prunk der orchestralen Ausstattung sieghaft daherkam … Es lag etwas Brutales und Stumpfsinniges und zugleich etwas asketisch Religiöses, etwas wie Glaube und Selbstaufgabe in dem fanatischen Cultus dieses Nichts, dieses Stücks Melodie, dieser kurzen, kindischen, harmonischen Erfindung von anderthalb Takten … etwas Lasterhaftes in der
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