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Buch Der Sehnsucht

Titel: Buch Der Sehnsucht
Autoren: Anselm Gruen
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Persönlichkeiten, Menschen, die nach außen hin selbstsicher wirken, die es in der Wirtschaft oder Politik zu etwas gebracht haben, sind in der Tat nicht immer die reifsten Menschen. Und oft genug haben sie die Sehnsüchte des kleinen Kindes, das in ihnen steckt, nicht zugelassen. Nach außen hin erscheinen sie stark, reif, intelligent, ausgeglichen. Doch sie verbergen ihre Schattenseiten. Ihr Problem: Sie haben das innere Kind mit seiner Sehnsucht verdrängt. Dadurch aber fehlt es ihnen an Ursprünglichkeit, an Kreativität, an Lebendigkeit, an Zartheit, an Verständnis für das authentische Bild Gottes in ihnen, an das sie das innere Kind erinnern möchte. Sehnsucht ist für sie etwas Kindisches, etwas, das man als Erwachsener abstreifen muss. Aber diese Haltung macht sie hart und unnahbar. Ihr Krankheitssyndrom wirkt wie ein Aussatz. Man möchte nie länger in der Nähe solcher Menschen sein. Von ihnen geht etwas aus, das einen wegdrängt und abstößt. Man fühlt sich nicht zu Hause bei diesen Menschen.

    INFANTIL ODER REIF?

    Wenn man die Menschen fragte, wonach sie sich sehnen, so würden viele antworten: nach Heimat und Geborgenheit, nach Liebe und Zärtlichkeit, nach Frieden und Harmonie, nach Reinheit und Klarheit - und nach der Zeit der heilen Welt der Kindheit. Letztlich zeigt sich in all diesen Sehnsüchten nichts weniger als die Sehnsucht nach dem Paradies. Für den Psychoanalytiker Sigmund Freud ist diese Sehnsucht nach dem Paradies nur eine Form infantiler Regression: die Sehnsucht nach dem Mutterschoß. Die Psychoanalyse meint, der Mensch werde nur reif, wenn er seine Sehnsüchte loslasse. Das kann so nicht stimmen. Natürlich gibt es kindische Träume. Und natürlich sollte man das Paradies nicht mit dem Schlaraffenland verwechseln, in dem man für immer ausgesorgt hat. Doch eine derart rigide Haltung, die Freud als Kriterium für Reife annimmt, ist für mich wenig anziehend. Ist wirklich nur der Mensch reif, der sich ohne Hoffnung und ohne Sehnsucht mit dem Leben zufrieden gibt, so wie es ist? Gibt es keinen Himmel über uns? Ist alles nur Projektion? Wer so lebt, für den bekommt das Leben eine Erdenschwere, die den Geschmack der Resignation atmet. Natürlich gibt es auch eine Sehnsucht, in die der Mensch flüchtet, um der Realität auszuweichen. Aber für mich hält die Sehnsucht den Menschen auch lebendig. Ob es eine lebendig machende oder eine verdrängende Sehnsucht ist, spürt man an der Auswirkung auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft. Das Doppelgesicht dieser Emotion macht sich nicht nur beim Einzelnen bemerkbar, sondern auch in der Gesellschaft. Die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann meinte einmal: „Die Sehnsucht nach Geborgenheit ist eine ständige Gefahr für die Demokratie." Damit spricht sie in einem durchaus ernst zu nehmenden Sinn die Sehnsucht nach einer infantilen Geborgenheit an, die man sich vom Staat als einem großen „Über-Ich" erhofft. Der demokratische Staat kann diese Geborgenheit aber nie schenken. Daher überfordern die Menschen den Staat, wenn sie ihre Sehnsucht nach Geborgenheit auf ihn richten. Wenn sie aber ihre Sehnsucht nach Heimat verdrängen, dann wird das Klima in der Gesellschaft kalt und unmenschlich. Es gehört zur Natur des Menschen, dass er sich nach Heimat sehnt. Auch die rast- und ruhelose Generation, die in neunzig Sekunden im Interne t um die Welt surft, ist „auf der Suche nach Sinn, Halt und Geborgenheit", bestätigt der Freizeitforscher Horst Opaschowski: Worum es also immer wieder geht, ist die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Gefühlen, die unsere Lebendigkeit ausmachen, und unreifen Träumen, die infantil und gefährlich sind.

    VERGANGENHEIT UND HEIMWEH

    Der Schriftsteller Arnold Stadier hat einen Roman veröffentlicht, von dem er sagt, dieses Buch sei an seiner „Sehnsucht entlang geschrieben wie an einer Hundeleine". Das Buch trägt auch den Titel: „Sehnsucht". Sehnsucht hat in der Tat nichts gezielt Geplantes, sondern zieht einen hierhin und dorthin, einmal in die Vergangenheit, einmal in die Zukunft. Stadier erzählt von der Kindheit, erinnert sich an das Suchen der Pubertät, die ersten Erfahrungen mit Sexualität und andere Erfahrungen „des ersten Mal", aber er spricht eigentlich immer wieder vom Zauber einer verlorenen Zeit, einer Möglichkeit, die es nicht mehr gibt. „Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, so wie heute die Vergangenheit mein Heimweh ist." Der Erzähler konstatiert und beschreibt
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