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Brunetti 05 - Acqua alta

Brunetti 05 - Acqua alta

Titel: Brunetti 05 - Acqua alta
Autoren: Donna Leon
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»Sie werden bald hier sein.« Dann sah er Brett an. »Ich kann Ihnen nichts gegen die Schmerzen geben, bevor wir Sie nicht geröntgt haben. Sind die Schmerzen schlimm?«
    Für Brett bestand die ganze Welt aus Schmerzen.
    Der Arzt sah, daß sie fröstelte, und fragte: »Haben Sie noch mehr Decken?« Luca ging ins Schlafzimmer und kam mit einer weiteren Steppdecke zurück, die er mit der Hilfe des Arztes über Brett breitete, obwohl es nicht viel zu nützen schien. Ihre Welt war kalt geworden, und sie spürte nur Kälte und Schmerz.
    Der Arzt richtete sich auf und fragte, an Flavia gewandt: »Was ist denn passiert?«
    »Ich weiß es nicht. Ich war in der Küche, beim Kochen. Als ich herauskam, lag sie auf dem Boden, so wie jetzt, und zwei Männer waren da.«
    »Was für Männer?« wollte Luca wissen.
    »Ich weiß es nicht. Einer war groß, der andere klein.«
    »Und dann?«
    »Ich bin auf sie losgegangen.«
    Die Männer wechselten einen Blick. »Wie?« fragte Luca.
    »Ich hatte ein Messer. Ich war doch beim Gemüseschneiden, und als ich aus der Küche kam, hatte ich das Messer noch in der Hand. Als ich die beiden sah, habe ich nicht überlegt, ich bin einfach auf sie losgegangen. Sie sind dann die Treppe hinuntergerannt.« Sie schüttelte den Kopf, das alles interessierte sie nicht. »Was ist mit ihr? Was haben die ihr getan?«
    Bevor der Arzt antwortete, entfernte er sich ein paar Schritte von Brett, obwohl sie bestimmt nicht in der Lage gewesen wäre, seine Worte zu hören oder gar zu verstehen. »Sie hat ein paar Rippen gebrochen und einige böse Platzwunden. Außerdem könnte ihr Kiefer gebrochen sein.«
    »Oh, Gesù«, entfuhr es Flavia, und sie hielt sich rasch die Hand vor den Mund.
    »Aber für eine Gehirnerschütterung gibt es keine Anzeichen. Sie reagiert auf Licht und versteht, was ich sage. Trotzdem müssen wir noch röntgen.«
    Noch während er das sagte, hörten sie Stimmen im Treppenhaus. Flavia kniete sich neben Brett. »Sie kommen jetzt, cara. Es wird alles gut.« Ihr fiel nichts anderes zu tun ein, als ihre Hand auf die Decken über Bretts Schulter zu legen und zu hoffen, daß die Wärme zu der Frau darunter durchdrang. »Es wird alles wieder gut.«
    Zwei Männer in weißen Kitteln erschienen an der Tür, und Luca winkte sie herein. Sie hatten ihre Trage vier Etagen tiefer neben der Haustür stehenlassen, wie man es überall in Venedig machen mußte, und statt dessen den Korbstuhl mitgebracht, in dem sie die Kranken durch die engen, verwinkelten Treppenhäuser der Stadt zu tragen pflegten.
    Beim Eintreten sahen sie nur kurz auf das blutige Gesicht der Frau am Boden, als wäre es ein alltäglicher Anblick für sie, was wohl auch der Fall war. Luca verzog sich ins Wohnzimmer, und der Arzt wies die Männer an, die Verletzte mit besonderer Vorsicht hochzuheben.
    Die ganze Zeit fühlte Brett nichts als die Umklammerung des Schmerzes. Er kam von überall in ihrem Körper, aus der Brust, die sich zusammenzog und jeden Atemzug zur Qual werden ließ, von ihren Gesichtsknochen und dem brennenden Rücken. Manchmal spürte sie die Schmerzen einzeln, dann verschmolzen sie wieder in eins, überfluteten sie, vermischten sich und blendeten alles aus, was nicht Schmerz war. Später sollte sie sich von alledem nur an dreierlei erinnern: die Hand des Arztes an ihrem Kinn, eine Berührung, die zu einem weißen Lichtblitz in ihrem Hirn wurde; Flavias Hand an ihrer Schulter, die einzige Wärme in diesem Meer von Kälte; und den Moment, als die Männer sie hochhoben und sie aufschrie und ohnmächtig wurde.
    Stunden später, als sie aufwachte, war der Schmerz immer noch da, doch irgend etwas hielt ihn auf Armeslänge von ihr ab. Sie wußte, wenn sie sich bewegte, und sei es auch nur einen Millimeter, würde er wiederkommen und noch schlimmer sein, also lag sie völlig still und versuchte, in jeden einzelnen Teil ihres Körpers hineinzuspüren, um festzustellen, wo der schlimmste Schmerz lauerte, doch bevor sie ihrem Gehirn diesen Auftrag geben konnte, wurde sie von Schlaf übermannt.
    Später erwachte sie wieder, und diesmal schickte sie ihren Verstand ganz vorsichtig aus, um ihre diversen Körperteile zu erkunden. Der Schmerz wurde immer noch von ihr ferngehalten, und es schien, als wäre Bewegung nicht mehr so gefährlich, so verhängnisvoll. Sie konzentrierte sich auf ihre Augen und versuchte festzustellen, was dahinter lag, Licht oder Dunkel. Sie bekam es nicht heraus, und so ließ sie ihre Gedanken weiterwandern, über
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