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Brunetti 01 - Venezianisches Finale

Brunetti 01 - Venezianisches Finale

Titel: Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Autoren: Donna Leon
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Diebstahl? Wenn man das Gehör eines Menschen stiehlt, was nimmt man ihm dann? Und ist es ein schlimmeres Verbrechen, wenn dem Opfer sein Gehör wichtiger ist als anderen Menschen das ihre?
    »Signora, glauben Sie, er hat Sie hinter die Bühne gebeten, damit es aussieht, als hätten Sie ihn umgebracht?«
    »Das kann ich nicht sagen, möglich wäre es. Er glaubte an Gerechtigkeit. Aber wenn er es wollte, hätte er dafür sorgen können, dass es viel schlechter für mich aussähe. Ich habe inzwischen viel darüber nachgedacht. Vielleicht hat er es dabei belassen, damit ich nie ganz sicher sein sollte, welche Absicht er hatte. So wäre er dann nicht schuldig an dem, was auch immer deswegen mit mir geschieht.« Sie lächelte schwach. »Er war ein sehr komplizierter Mensch.«
    Brunetti beugte sich vor und legte ihr die Hand auf den Arm. »Signora, bitte hören Sie jetzt einmal ganz genau zu.« Er dachte an Chiara, entschied sich und sprach weiter. »Wir haben darüber gesprochen, wie Ihr Mann Ihnen seine Ängste wegen seiner zunehmenden Taubheit anvertraut hat.«
    Erschrocken wollte sie protestieren: »Aber...«
    Er unterbrach sie, bevor sie weiterreden konnte. »Wie er Ihnen von seiner Taubheit erzählt hat, wie er sie fürchtete. Dass er in Deutschland bei seinem Freund Erich gewesen sei und dann bei einem anderen Arzt in Padua und beide ihm sagten, dass er taub werde. Dass dies sein Verhalten hier erklärt, seine offensichtliche Depression. Und dass Sie mir gesagt haben, Sie fürchteten, er habe sich umgebracht, als ihm klar wurde, dass seine Karriere vorbei war, dass er als Musiker keine Zukunft mehr hatte.« Seine Stimme klang so müde, wie er sich fühlte.
    Als sie widersprechen wollte, sagte er nur: »Signora, die einzige, die wegen der Wahrheit leiden würde, ist die einzig Unschuldige.«
    Diese Wahrheit brachte sie zum Schweigen. Nach einer Pause meinte sie: »Wie mache ich das alles?«
    Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er ihr raten sollte. Er hatte noch nie einem Verbrecher geholfen, ein Alibi zu erfinden oder Beweise für sein Verbrechen in Abrede zu stellen. »Das Wichtigste ist, dass Sie mir von seiner Taubheit erzählt haben. Daraus ergibt sich alles andere.« Sie sah ihn an, noch immer erstaunt und er redete mit ihr wie mit einem begriffsstutzigen Kind, das eine Lektion nicht begreifen wollte. »Das haben Sie mir bei unserem zweiten Zusammentreffen gesagt, an dem Morgen, als ich hier in der Wohnung war. Sie haben mir erzählt, dass er ernsthafte Probleme mit dem Gehör hatte und seinen Freund Erich deswegen aufgesucht hätte.« Sie wollte wieder protestieren und er hätte sie für ihre Begriffsstutzigkeit schütteln mögen. »Außerdem hat er Ihnen gesagt, dass er noch bei einem anderen Arzt war. Das alles wird in meinem Bericht über unser Gespräch stehen.«
    »Warum tun Sie das?«, fragte sie endlich.
    Er tat die Frage mit einer Handbewegung ab.
    »Warum tun Sie das?«, fragte sie noch einmal.
    »Weil Sie ihn nicht umgebracht haben.«
    »Und das andere? Was ich ihm angetan habe?«
    »Es gibt keine Möglichkeit, Sie dafür zu bestrafen, ohne Ihre Tochter noch mehr zu strafen.«
    Angesichts dieser Wahrheit zuckte sie schmerzlich zusammen. »Was muss ich noch tun?«, fragte sie, jetzt gehorsam.
    »Das weiß ich noch nicht so genau. Denken Sie vorerst nur daran, dass wir bei meinem ersten Besuch darüber gesprochen haben.«
    Sie wollte etwas sagen, hielt aber dann inne.
    »Was ist?«, wollte er wissen.
    »Nichts, nichts.«
    Er stand abrupt auf. Ihm war nicht wohl dabei, hier zu sitzen und ein Komplott zu schmieden. »Das wäre dann alles. Wahrscheinlich werden Sie bei der Verhandlung aussagen müssen, sollte es dazu kommen.«
    »Werden Sie da sein?«
    »Ja. Bis dahin habe ich meinen Bericht geschrieben und meine Meinung abgegeben.«
    »Und wie wird die sein?«
    »Es wird die Wahrheit sein, Signora.«
    Ihre Stimme klang ruhig. »Ich weiß nicht mehr, was die Wahrheit ist.«
    »Ich werde dem procuratore sagen, nach meinen Ermittlungen habe Ihr Mann Selbstmord verübt, als er merkte, dass er taub wurde. Genau so, wie es war.«
    »Ja«, echote sie. »Genau so, wie es war.« Dann ließ er sie allein in dem Zimmer zurück, in dem sie ihrem Mann die letzte Spritze gegeben hatte.

25.
    Am nächsten Morgen legte Brunetti wie befohlen um acht seinen Bericht auf den Schreibtisch von Vice-Questore Patta, wo er liegen blieb, bis sein Vorgesetzter kurz nach elf in seinem Büro erschien. Als dieser sich, nachdem er
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