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Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Titel: Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Autoren: Christian Lindner , Hans-Dietrich Genscher
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vorweisen zu können, oder besser noch: Erfolge. Was immer das heißen mag.
    LINDNER
    Herr Genscher, in der öffentlichen Wahrnehmung herrscht der Eindruck vor, die auswärtige Politik, das Außenamt, sei in seiner Bedeutung weniger wichtig geworden. Wie beurteilen Sie das?
    GENSCHER
    Das wird wohl vor allem so gesehen, weil die Treffen des Europäischen Rats mittlerweile allein Sache der Regierungschefs sind. Das war früher anders, da kamen die Regierungschefs und die Außenminister zusammen, und dann kamen die Finanzminister hinzu. Was jetzt geschieht, ist in Nizza verspielt worden. Grundsätzlich hat die Bedeutung des Außenministers viel mit dem Verhältnis zum Regierungschef zu tun. Ich habe zwei große Ressorts geleitet. In dem einen, damals sehr großen Ressort, dem Innenministerium, habe ich mit Bundeskanzler Willy Brandt im Jahr, wenn es hoch kam, drei Mal geredet. Weil das Innenministerium vornehmlich ein Gesetzgebungsministerium ist, und in der Gesetzgebung gibt es keine Richtlinienkompetenz. Einige wenige Mal habe ich also mit Brandt als Innenminister das Notwendige besprochen. Der Außenminister muss sich dagegen eigentlich täglich mit dem Bundeskanzler austauschen, weil permanent Entscheidungen anstehen.
    Das Zwischenmenschlich-Klimatische spielt dabei natürlich eine Rolle – es muss einfach funktionieren. Das hat es hundertprozentig bei Helmut Schmidt und Helmut Kohl, den Bundeskanzlern, mit denen ich als Außenminister gearbeitet habe. Und das, obwohl die beiden ja höchst unterschiedlich in ihrer Arbeitsweise waren, aber es keinem von ihnen an hohem Selbstbewusstsein mangelte. Natürlich ist die Reputation des Außenministers auch eine Frage seiner Selbstbehauptung. Es gibt einen Rat der Europa-Minister und der Europa-Staatssekretäre, die für Europa-Angelegenheiten in Wirtschaft, Finanzen und allen relevanten Themen zuständig sind. Für mich war selbstverständlich, dass der Staatssekretär im Auswärtigen Amt den Vorsitz bei den Europa-Staatssekretären führte – und damit hatten wir dann auch die Federführung für die Europapolitik. Vor Treffen des Europäischen Rats oder anderen wichtigen Entscheidungen fand eine Besprechung beim Bundeskanzler statt. An der nahmen der Außenminister und die involvierten Minister teil, der Wirtschafts- und der Finanzminister waren in der Regel immer dabei. Diese Gespräche begannen mit der Frage des Bundeskanzlers: »Wer trägt vor?« Und dann antwortete ich: »Der Vorsitzende des Rates der Europa-Staatssekretäre« – und dann trug mein Staatssekretär vor.
    LINDNER
    Das hat sich in den letzten 20  Jahren verändert. Die Europapolitik ist heute in vielen Fragen Innen- und nicht mehr Außenpolitik. Ist das rückholbar?
    GENSCHER
    Es ist entwicklungsfähig. Das Verhältnis zu einem anderen Land umfasst alle politischen Bereiche. Es braucht einen konzeptionellen Ansatz und ein konzeptionelles Verständnis. Also weit mehr als die Addition von Fach- oder Ressortbeziehungen. Außenpolitische Beziehungen waren schon immer komplex. Wenn Sie allein bedenken, welche brutalen Auswirkungen auf alle Lebensverhältnisse unsere Beziehungen zu Moskau hatten. Unser Verhältnis zu jedem afrikanischen Staat beispielsweise wurde mit der Hallstein-Doktrin erschwert, mit der Bonn die Anerkennung der DDR strikt zu verhindern suchte. Das bedeutete, jede bilaterale Beziehung wurde im Lichte des jeweiligen Verhältnisses im anderen Staat zu Moskau gesehen. Wer die DDR anerkannte, zu dem brach Bonn die Beziehungen ab, bis Walter Scheel 1969 das Außenamt übernahm. Sie können erahnen, welch kompliziertes Geflecht das war. Unter diesem Aspekt zumindest ist die Welt heute einfacher geworden. Natürlich gibt es heute andere Herausforderungen, aber einen Rollenverlust der klassischen Außenpolitik erkenne ich nicht. Wie gesagt, meiner Ansicht nach hängt letztlich viel vom persönlichen Verhältnis der Akteure untereinander und deren jeweiliger Durchsetzungsfähigkeit ab.
    Im übrigen: Unser Grundgesetz räumt den Mitgliedern der Bundesregierung eine außerordentlich starke Stellung ein. Jeder Minister leitet sein Ressort in eigener Verantwortung. Es gibt kein Weisungsrecht des Bundeskanzlers gegenüber einem Minister. Jeder von ihnen hat eine starke Stellung, auch im Verhältnis zum Regierungschef.
    Aber der Bundeskanzler hat die Richtlinienkompetenz, wird man einwenden. Lieber Herr Lindner, ich habe in 23  Jahren Zugehörigkeit zur Bundesregierung niemals erlebt, dass einer
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