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Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Titel: Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Autoren: Christian Lindner , Hans-Dietrich Genscher
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Armee nach Westen und hoffe, dass wir in amerikanische Gefangenschaft kommen.«
    LINDNER
    Befreiung durch Gefangenschaft, harte Zukunftsaussichten für einen 18 -Jährigen.
    GENSCHER
    Natürlich fragten wir damals, was nun werden wird. Wir wussten ja, dass der Krieg verloren war und dass er sehr bald zu Ende gehen würde. Meine Mutter hatte mich noch an meinem Geburtstag, am 21 . März 1945 , da wurde ich 18  Jahre alt, in der Kaserne in Wittenberg besucht. Als ich sie zum Bahnhof brachte, sagte ich zu ihr: »Ich vermute mal, dass wir uns jetzt eine ganze Weile nicht sehen werden. Wir werden jetzt zum Einsatz kommen. Aber ich habe im Gefühl« – damit wollte ich sie beruhigen –, »ich werde es überleben. Eigentlich geht es nur darum, in welche Gefangenschaft ich komme.«
    Ja, und dann war es so weit. Die letzte Nacht, vom 6 . auf den 7 . Mai, übernachteten wir auf einem Gutshof in der Nähe der Elbe bei Tangermünde auf dem Ostufer. Auf diesem Gutshof wurde Bismarck geboren, und wir lagen nun dort in der Scheune. Wir wussten, dass wir am nächsten Tag wohl die Elbe nach Westen überschreiten würden. Seit Tagen schon zog die Armee über die Trümmer einer Brücke. Sie müssen sich vorstellen, wie lange das dauert, wenn achtzigtausend Mann über einen Holzsteg marschieren. Als wir da also abends im Stroh lagen, sagte ich: »Leute, wir werden das jetzt ja packen, wahrscheinlich, dann könnt ihr später euren Kindern und Enkeln sagen, die letzte Nacht des Krieges habt ihr bei Bismarck übernachtet. Ihr müsst ja nicht sagen, dass es in der Scheune war.«
    Was wir nicht ahnten: Am nächsten Tag sollte uns noch ein schwerer Kampfeinsatz bevorstehen. Wir mussten den Brückenkopf verteidigen gegen die nachrückenden Russen, die uns diese Fluchtmöglichkeit abschneiden wollten. Wir befanden uns in einem kleinen Ort namens Wust; das ist der Ort, in dem der unglückliche Leutnant von Katte, der Erzieher Friedrichs des Großen, geboren worden war. Seine Familie stammte aus Wust, und er wurde dort auch nach der Hinrichtung in Küstrin beigesetzt.
    LINDNER
    Waren Sie selbst auch in die Kampfhandlungen verwickelt?
    GENSCHER
    Ja, sicher, ganz massiv. Das Schwierigste war, sich vom Gegner abzusetzen, ohne dass er es bemerkt. Wir hatten den Auftrag, mit unserem Bataillon den Ort Wust bis 15 . 30  Uhr am 7 . Mai zu verteidigen. Am Ende waren wir nur noch zehn Mann. Dann wurden die Nächsten abgezogen, schließlich waren wir nur noch zu dritt …
    LINDNER
    Und Sie dabei?
    GENSCHER
    Ich war einer von den dreien. Am Westrand des Ortes, auf einer kleinen Anhöhe, schossen wir dann in alle Richtungen, um den Russen, die oben aus den Dachfenstern der Häuser rausguckten, vorzutäuschen, dass wir noch viele sind. So wollten wir Luft nach hinten schaffen. Dann wurde einer von uns letzten drei durch ein Explosivgeschoss verwundet, sein Arm hing herunter, sodass ich dem anderen sagte: »Zieh ihn zurück, ich halte die Stellung.« Da lag ich dann, allein, mit dem Gedanken, wenn ich jetzt einen Schuss ins Bein kriege, komme ich hier nicht mehr weg. Aber es ging gut. Ich kam tatsächlich bis an die Elbe. Dort wartete eine große Zahl von deutschen und amerikanischen Sanitätskraftwagen, Krankenschwestern, Sanitätern, Ärzten. »Verwundete rechts raus«, hieß es – und plötzlich war der Krieg von einer Minute auf die andere beendet.
    LINDNER
    Solche Erfahrungen vergisst man wohl nie.
    GENSCHER
    Ja, wenngleich das tiefgehendste Erlebnis da schon zwei, drei Wochen zurücklag. Ich war nachts allein auf dem Weg zum Gefechtsstand unseres Bataillons, der sich in einem kleinen Dorf befand. Eine durchgehende Frontlinie gab es schon nicht mehr. Beide Seiten tasteten sich vor allem nachts ab. Als ich im Dunkeln in einem Bauernhof stand und mich zu orientieren suchte, öffnete sich unmittelbar neben mir leise und behutsam die Hoftür neben dem großen Hoftor. Die Maschinenpistole hatte ich schussbereit. Da blickte ich auf eine Entfernung von ein, zwei Metern in das angsterfüllte Kindergesicht, das mit weit aufgerissenen Augen unter dem russischen Stahlhelm hervorblickte. Seine Kalaschnikow hatte er genauso schussbereit wie ich meine Maschinenpistole. Sein Entsetzen war wohl nicht geringer als das meine. Reglos standen wir uns gegenüber. Eine Sekunde oder vielleicht auch drei oder fünf. Ich kann es nicht mehr sagen. Aber keiner von uns war in der Lage, auf den Menschen zu schießen, dem er Auge in Auge gegenüberstand. Es war der
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