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Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Titel: Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Autoren: Christian Lindner , Hans-Dietrich Genscher
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Ostsektor ja noch fort. Sie stellte einen Abgeordneten im Bundestag in Bonn, der in Ostberlin wohnte. Mit der S-Bahn fuhr er nach Westberlin und flog dann zur Bundestagssitzung.
    LINDNER
    Ist es Ihnen auch so ergangen wie manchen Ihrer Generation, dass Sie sich als missbraucht und verführt betrachteten?
    GENSCHER
    Nein, verführt nicht. Das familiäre Milieu bewahrte mich davor, und die Schule auch. Das ist mir sehr wichtig. Kurz bevor ich Luftwaffenhelfer wurde, mussten wir einen Aufsatz schreiben, fünf Stunden. Thema war ein Zitat aus Franz Grillparzers
Der Traum ein Leben
. Diese Worte habe ich nicht vergessen: »Eines nur ist Glück hienieden und des Innern stiller Frieden und die schuldbefreite Brust, und die Größe ist gefährlich, und der Ruhm ein leeres Spiel, was er gibt sind nicht’ge Schatten, was er nimmt, es ist so viel.« Eine Stunde kaute ich an meinem Federhalter. Dann kam der Durchbruch, und ich schrieb: Offenbar geht es Grillparzer um die inneren Werte und den Menschen, wie er ist. Jeder sei anders, aber es käme auf die inneren Werte an. Aber wenn das alles richtig sei, was Grillparzer schreibt, und ich sei der Meinung, das sei richtig, dann müsste ich mich fragen, warum bei uns alle Leute Uniformen tragen, wir seien ein uniformiertes Land. Anschließend zählte ich alle Uniformen auf.
    Als der Lehrer die Arbeit zurückgab, bemerkte er – ich muss dazu sagen, der mochte mich auch sehr – Folgendes: »Ich habe das Gefühl, das Thema war doch ein bisschen zu schwierig.« Das heißt, es war kein vorgeschriebenes Thema, er hatte es selbst ausgesucht. »Im Grunde hat es nur einer verstanden: Genscher. Eigentlich hättest du eine Eins verdient, aber da du wie immer zwei Kommafehler gemacht hast, konnte ich dir nur eine Zwei plus geben.« Er hatte eine Komma-Macke. Danach gab er allen ihre Arbeiten zurück, nur mir nicht. »Wo ist denn meine Arbeit?«, wollte ich wissen. »Ach«, erwiderte er, »ich vergaß das zu erwähnen, bei der Korrektur ist mir das Tintenfass umgefallen, und da habe ich deine Arbeit weggeworfen.« Als die Stunde zu Ende war und ich nach draußen ging, legte er seinen Arm um meine Schulter: »Nicht wahr, mein Junge, jetzt gibt es auf dieser ganzen großen Welt nur zwei Menschen, nämlich dich und mich, die wissen, warum es besser war, dass ich deine Arbeit weggeworfen habe.«
    Wissen Sie, wenn Sie so etwas erleben … – ich war richtig glücklich!
    LINDNER
    Da hatten Sie einen Verbündeten, aber Sie haben eben auch früh eine Erfahrung gemacht, die wir heute nicht mehr kennen – die einer großen Unfreiheit, wenn man mit der Interpretation eines Dichterworts schon ein Risiko eingeht.
    GENSCHER
    Ich sage Ihnen, ich fand die Reaktion von ihm einfach klasse! Ich habe es zu Hause gleich erzählt. Meine Mutter erwiderte daraufhin: »Ich habe dir doch immer schon gesagt, du musst ja nicht auch noch schreiben, was du denkst.«
    LINDNER
    Sie haben später Politik zum Beruf gemacht. Politiker zu werden – haben Sie sich das schon zu dieser Zeit nach dem Kriegsende vorgenommen?
    GENSCHER
    Ach, überhaupt nicht! Ich hatte ein ganz anderes Berufsziel: Rechtsanwalt, als ich 1952 nach Westdeutschland kam. In der DDR , wo ich mein Jurastudium begann, wäre ich ohnehin nie Politiker geworden. Anwalt wollte ich werden, um selbständig zu sein. Mir imponierte, Leuten helfen zu können!
    LINDNER
    Und wie wurde dann aus dem Anwalt ein Politiker?
    GENSCHER
    1946 , wie gesagt, bin ich Mitglied der LDP geworden. Ich erinnere mich, dass sich damit sehr bald eine Enttäuschung verknüpfte, weil mir die Parteiführung in Berlin nicht hart genug erschien. Sie erwarten doch als junger Mann, dass die der SED mal offen sagen, was Sache ist. Das wagte zwar Kurt Schumacher, aber aus dem sicheren Westen heraus. Ja, und dann bekam ich um die Weihnachtszeit 46 / 47 die Lungentuberkulose, die mich zunächst vollkommen aus dem Verkehr zog. Ich lag im Krankenhaus, und eines Tages setzte sich der Chefarzt zu mir aufs Bett: »Meine Oberärzte sagen dir, du hast eine feuchte Rippenfellentzündung und Lungenentzündung. Das stimmt, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Du hast eine schwere beiderseitige Lungentuberkulose. Vier von fünf Lungenlappen sind befallen, und ich muss dir sagen, wir Ärzte können da gar nicht so viel machen. Mindestens 50  Prozent musst du selbst schaffen, du musst die Krankheit besiegen wollen.«
    Und dann hielt er mir einen – ich würde heute sagen – Impulsvortrag. Nie
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