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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten
Autoren: Mika Bechtheim
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zur Brust gezogen, das Gesicht mir zugewandt.
    »Leg dich wieder hin«, murmelte er unvermittelt, blinzelte und streckte sich. Unter der Daunendecke kam eine Hand hervor, griff nach mir, warm und behutsam, und zog mich zurück ins Bett.
    Er schob sich an meinen Rücken, küsste meinen Nacken und hielt mich fest umarmt. Ich wagte nicht, mich zu rühren, so sehr genoss ich die Wärme seiner Haut und den Atem an meinem Hals, während ich auf den Wind horchte, der draußen um das Haus pfiff. Während ich diesem gleichmäßigen Atem lauschte, wurde mir klar, dass ich endlich frei war und dass die Schwermut, die sich vor zwei Jahrzehnten auf meine Seele gelegt hatte, fort war.
    Vielleicht würde sie eines Tages wieder hervorgekrochen kommen, doch solange Alex an meiner Seite war, würde alles gut sein. Vor Dankbarkeit machte mein Herz einen Sprung, und ich begriff, dass ich verliebt war. Ohne Vorbehalte, ohne Ängste und ohne die üblichen Abwehrmechanismen, die mich seit Charles’ Tod begleitet hatten. So lag ich zufrieden in seinen Armen, mit wirren Haaren und zerknittertem Gesicht – und es war mir völlig egal.
    Seit dieser Nacht waren wir ein Paar – und das verwunderte mich selbst am meisten, denn bis dahin war ich im Beenden von Affären oder Beziehungen mindestens ebenso versiert wie darin, sie zu beginnen.
    Bis Lüneburg klebten meine Augen an den Hecklichtern eines LKWs, dessen breite Reifen eine komfortable Spur auf der Autobahn zogen. Ich fuhr ihm hinterher und lauschte im Radio dem Morgenmagazin des NDR.
    Hinter Lüneburg quälten sich die Räder meines Audis über vereiste Bundesstraßen. Dörfer, dichte Nadelwälder und Felder krochen auf mich zu und wichen wieder zurück. Die langen Arme von Windrädern, alte Fabriken, neue Lagerhallen, das Skelett einer Kirchenruine, die umgefallenen Grabsteine eines alten, längst aufgegebenen Friedhofs ließ ich hinter mir.
    Meine Schultern wurden langsam steif, meine Beine brauchten Bewegung, und mein Kopf verlangte nach einem Kaffee.
    An einer Tankstelle besorgte ich mir einen Kaffee extra large und ein frisches Salamibaguette mit dem üblichen Salatblatt. Danach war ich etwas wacher.
    Inzwischen fegten Sturmböen den Schnee über die weiten Felder auf die Straße, und das offene Land verschmolz zu einem Tunnel wild tanzender Flocken. Ich fuhr nur noch 30, höchstens 40.
    Meine Gedanken schweiften ab. Ich dachte an Charles und an meinen Bruder Leo, der Wert darauf legte, dass wir ihn Lio nannten.
    Ich meine, hey!, es waren die Achtziger. Wir hörten NDR oder selbstgemixte Kassetten, die wir mit Songs aus dem Radio bespielten. In den Läden gab es Platten von Stevie Wonder, Rod Stewart oder Tina Turner. An den Schulen wurde Englisch gelehrt, und wer etwas auf sich hielt, nannte sich Piet statt Peter oder Lio statt Leo. Eltern gaben ihren Kindern Namen wie Marcel oder Robin, Jacqueline oder Roxanne. Hauptsache, es klang irgendwie nach großer weiter Welt und nicht nach schäbiger DDR, baumwollenen Schlüpfern und spießigen Polyesterpullovern.
    Schon während meiner Kindheit in den Siebzigern war Leo mein großer Held gewesen, mein heimlicher Ritter, an dem ich wie eine Klette hing und dem ich überallhin folgte. Sicher, es gab Tage, da er mit seinen Kumpeln allein unterwegs sein wollte, und dann verbot er mir, ihnen zu folgen. Ich tat es trotzdem. Wenn er mich entdeckte, wie ich hinter einem der Büsche kauerte in dem Bemühen, nicht gesehen zu werden, aber auch ja nichts zu verpassen, lachte er, zerrte mich hervor und wies mir irgendeine Rolle in ihren Spielen zu. Und sei es nur, dass ich die Fußbälle einsammeln musste, die sie früher oder später über den Zaun in einen der Nachbargärten schossen. Manchmal durfte ich auch die Prinzessin sein, die aus den Fängen eines bösen Prinzen befreit wurde und die – die Schultern umweht von einer alten Spitzengardine und auf dem Kopf eine goldene Pappkrone – mit ihrem Retter in eine glückliche Zukunft ritt. Das war meine Lieblingsrolle.
    Doch von einem Tag auf den anderen zog sich Leo von mir zurück. Sein Lachen war wie weggezaubert, und er wurde launisch und unberechenbar. Meine Mutter beruhigte mich. So sei das eben mit den Jungs, wenn sie in die Pubertät kämen und erwachsen würden. Ich wusste zwar damals nicht genau, was Pubertät bedeutete, aber ich wusste genau, dass Leos Verhalten nichts damit zu tun hatte.
    Natürlich war mein Bruder nicht perfekt. Schon mit zehn Jahren war er leicht reizbar gewesen und
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