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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten
Autoren: Mika Bechtheim
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nie einer Konfrontation oder einem Kampf aus dem Weg gegangen. Ich erinnerte mich noch genau, wie er einen Jungen verprügelte, der drei Jahre älter und anderthalb Köpfe größer war als er. Er tat es, um mich zu verteidigen, denn der Junge hatte mich auf dem Nachhauseweg aus Übermut vom Fahrrad gerissen. Ich hatte mir die Knie aufgeschlagen und einen langen Riss in meinem Rock, mit dem ich am Sattel hängengeblieben war. Meine Mutter hatte mir den Rock auf einer alten Singer-Nähmaschine genäht, und ich trug ihn das erste Mal in der Schule, denn eigentlich war er nur für besondere Anlässe gedacht. Ich hatte tagelang gebettelt und das geradezu heilige Versprechen abgegeben, besonders gut auf ihn zu achten, bis ich Eddie endlich herumgekriegt hatte.
    Eddie war über den ramponierten Rock so empört, dass sie mir einen dreitägigen Stubenarrest verordnete, und während Leo draußen herumtollte, saß ich heulend in meinem Zimmer. Am Abend kroch ich zu ihm ins Bett und erzählte ihm, was dieser Junge mir angetan hatte. Leo dachte nicht lange nach. Der Junge war fällig, und so lauerte er ihm nach der Schule auf. Als er von ihm abließ, war das linke Handgelenk seines Gegners gebrochen.

4
    Der Junge rannte durch den Garten, als sei der Teufel hinter ihm her. Eisiger Wind peitschte ihm entgegen und trieb ihm dicke Flocken ins Gesicht, während seine Füße bis über die knöchelhohen Winterstiefel in dem frisch gefallenen Schnee versanken. Er stolperte über eine Beeteinfassung, fiel hin, stemmte sich aus dem Schnee, rannte weiter. Der blaue Rucksack klopfte einen schnellen Rhythmus auf seinen Rücken. Er drehte das spitze blasse Gesicht zum Haus, das im Schneetreiben kaum mehr zu erkennen war.
    Niemand folgte ihm. Das war gut so.
    Vor ihm tauchte die Buchenhecke auf.
    Sie war dicht und fast doppelt so hoch wie er selbst, doch der Junge wusste, es gab eine Lücke, durch die die Rehe auf ihrer Futtersuche in den Garten kamen. Er musste die Lücke nur finden.
    Er stand da, keuchte und starrte. Irgendwo hier war es gewesen. Entschlossen stapfte er die Hecke entlang, bis er die Lücke endlich fand, ließ sich auf die Knie hinab und zwängte sich hindurch. Ein Zweig kratzte über seine Wange und verhakte sich in seiner Wollmütze. Die Hecke war durchzogen von wilden Rosen, deren Triebe im Sommer meterlang wurden. Er holte tief Luft und griff mit der bloßen Hand nach einem stachligen Rosenzweig. In seiner Panik hatte er die Handschuhe in der Scheune vergessen. Als er den Zweig aus der Mütze zog, blieb ein Dorn in der Haut stecken. Vor Schmerz biss er die Zähne zusammen, zog ihn heraus und presste die Handfläche in den Schnee. Als er sie wegnahm, hinterließ sie einen kleinen, blutigen Fleck.
    Er kümmerte sich nicht darum und kroch auf allen vieren weiter durch die Buchenbüsche.
    Als er das freie Feld erreichte, richtete er sich auf und hielt einen Moment inne. Er stopfte die eiskalten Hände in die Tasche und sah sich um. Die Welt hier draußen war grau und verschwommen, und der Wind jagte den Schnee erbarmungslos über die offenen Felder. Solthaven lag rechts vom Haus seiner Großeltern. Das wusste er, auch wenn er die Stadt nicht sehen konnte. Er musste hinüber zu dem Schlehenbusch, hinter dem die Bahnschienen verliefen. Denen wollte er folgen, bis er Solthaven erreichte. Zwei Kilometer, weiter war es nicht. Dann könnte er durch die Stadt nach Hause gehen.
    Durch das Flockentreiben konnte er den Schlehenbusch nicht entdecken, doch er wusste, dass er da war. Er war immer da, so lange der Junge denken konnte.
    Er lief weiter. Der Wind stürmte ihm entgegen und verschluckte jeden Laut. Er schaute sich nach seinen Fußabdrücken um, die eine blutverschmierte Spur durch das Weiß zogen. Doch der Wind fegte schon über sie hinweg, und schnell würde der Schnee sie unter sich begraben. Auch das war gut so.
    Als er den Schlehenbusch sah, blieb er erleichtert stehen. Seine Wangen waren rot vor Anstrengung und glänzten feucht vom Schnee auf der Haut. Ihm war warm, und er öffnete seine Jacke. Er sog gierig den kalten Wind ein, bückte sich und steckte sich eine Handvoll Schnee in den Mund. Er sah noch einmal zurück und suchte die Hecke, durch die er gekrochen war. Sie war längst hinter dem weißen Vorhang verschwunden.
    Erwartungsvoll ging er um den Schlehenbusch herum. Dahinter mussten die Bahnschienen entlangführen, die ihm den Weg weisen würden.
    Er sah keine Schienen. Nur tiefverschneites Land und graubraunes
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