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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
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aufgezehrt. Sie gleicht einem unzählige Male gewaschenen Leintuch. Ich ging los, trug meine drei Schätze auf dem Arm und zog den Karren hinter mir her. Früher hat es, so glaube ich, schon einmal einen Wanderer gegeben, der so seine brennende Stadt verließ. Er trug seinen alten Vater und seinen kleinen Sohn auf den Schultern. Ich muss die Geschichte einmal gelesen haben, ja, wahrscheinlich war es so. Ich habe so viele Bücher gelesen. Oder hat Nösel mir die Geschichte erzählt? Oder Kelmar oder Diodème?
    Auf den Straßen war es ruhig, die Häuser schliefen, wie die Menschen, die darin wohnten. Unser Dorf sah aus wie immer, eine Herde, wie Orschwir gesagt hatte, eine Herde aus Häusern, die sich dicht aneinanderdrängten, friedlich unter dem noch dunklen, sternlosen Himmel standen, so reglos und leer wie jeder einzelne Stein in ihren Mauern. Ich ging am Gasthaus Schloss vorbei, in der Küche brannte ein kleines Licht. Ich ging vorbei am Café von Mutter Pitz, an Gotts Schmiede, an Wirfraus Bäckerei und hörte ihn drinnen seinen Teig kneten. Ich ging vorbei an der Markthalle, der Kirche, an Röppels Eisenwarenhandlung und an Brochierts Metzgerei. Ich ging an sämtlichen Brunnen vorbei und trank zum Abschied ein paar Schluck Wasser. All diese Orte waren lebendig, unversehrt, sicher. Kurz blieb ich vor dem Denkmal für die Toten stehen und las noch einmal: die Namen von Orschwirs beiden Söhnen, den Namen von Jenkins, unserem im Krieg gefallenen Polizisten, die Namen von Cathor und Frippman und meinen eigenen zur Hälfte getilgten. Ich ging weiter, weil ich Emélias Hand im Nacken spürte, denn sie wollte mir wahrscheinlich sagen, ich solle nicht stehenbleiben. Sie hatte es nie gemocht, wenn ich vor dem Denkmal stehengeblieben war und die Namen vorlas.
    Es war eine schöne, klare und kalte Nacht, die offenbar gar nicht mehr enden wollte. Ich machte einen Bogen um den Bauernhof des Bürgermeisters und hörte die Schweine in den Ställen rumoren. Ich sah auch Lise, die Keinauge , über den Hof gehen, in der Hand einen Eimer mit Milch, der mit jedem ihrer Schritte überschwappte, sodass sie eine dünne weiße Spur hinter sich herzog.
    Ich ging weiter, überquerte den Staubi auf der alten Steinbrücke und blieb kurz stehen, um noch ein letztes Mal das Murmeln zu hören. Ein Fluss hat viel zu erzählen, wenn man seine Sprache versteht. Aber die Menschen hören nie zu, was ihnen die Flüsse, Wälder, Tiere, Bäume, der Himmel, die Felsen, die Berge und die anderen Menschen erzählen. Und doch gibt es Momente, in denen man etwas sagen muss, und es gibt Momente, in denen man zuhören muss.
    Poupchette war noch nicht aufgewacht, und Fédorine döste vor sich hin. Nur Emélias Augen waren weit offen. Mühelos trug ich alle drei und spürte keine Müdigkeit. Kurz hinter der Brücke bemerkte ich etwa fünfzig Meter vor mir den Ohnmeist. Anscheinend hatte er auf mich gewartet, als ob er mir den Weg zeigen wollte. Er trabte langsam los und lief so etwa eine Stunde lang vor uns her, den Weg zur Haneck-Hochebene hinauf. Wir gingen durch den großen Wald, der nach Moos, Harz und Nadeln duftete. Unter den hohen Tannen lag Schnee, und der Wind wiegte die Baumkronen und ließ ihre Stämme leise knacken. Als wir die Baumgrenze erreicht hatten und weiter über die Hochweiden des Burenkopfs gingen, rannte der Ohnmeist los und kletterte auf einen Felsen. Da kamen die ersten Strahlen der Morgensonne hervor, und plötzlich erkannte ich, dass dieses Tier gar nicht der herrenlose Hund namens Ohnmeist war, der durch unsere Straßen streifte, als wäre das alles sein Königreich – sondern ein Fuchs, ein wunderschöner und, soweit ich es beurteilen konnte, uralter Fuchs. Er reckte sich stolz, wandte mir den Kopf zu, sah mich lange an, machte dann einen anmutigen Satz in den Ginster und war verschwunden.
    Das Gehen strengt mich nicht an. Ich bin glücklich, ja, ich bin glücklich.
    Die Gipfel um uns herum sind meine Verbündeten, sie werden uns verstecken. An der Kreuzigungsgruppe mit dem schönen, fremdartigen Christus habe ich mich umgedreht, um einen letzten Blick auf unser Dorf zu werfen. Normalerweise hat man von hier aus eine schöne Aussicht. Man sieht das winzige Dorf mit den Spielzeughäuschen, und wenn man den Arm danach ausstreckt, ist es, als passte es in die hohle Hand. Aber heute Morgen habe ich es nicht gesehen. So angestrengt ich auch hinschaute, ich habe nichts gesehen, obwohl es nicht neblig, wolkig oder dunstig war. Da unten
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