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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
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Bilissi: ‹Der König wird zufrieden sein. In zwei Tagen wirst du deinen Lohn bekommen.› Zwei Tage darauf stirbt Bilissis Mutter vor seinen Augen. ‹Soll das mein Lohn sein?›, denkt Bilissi traurig.
    In der folgenden Woche tritt der zweite Ritter vor und klopft an Bilissis Tür. Er bestellt für den König, seinen Gebieter, ein Gewand aus blauer Seide. Bilissi nimmt den Auftrag an und näht das schönste Gewand, das er je gemacht hat, noch viel schöner als das erste aus rotem Samt. Der Ritter kommt wieder, nimmt das Gewand entgegen und sagt zu Bilissi: ‹Der König wird zufrieden sein. In zwei Tagen wirst du deinen Lohn bekommen.› Zwei Tage darauf stirbt Bilissis Frau vor seinen Augen. ‹Soll das mein Lohn sein?›, denkt Bilissi traurig.
    Wieder eine Woche später tritt der dritte Ritter vor und klopft an Bilissis Tür. Er bestellt bei ihm für den König, seinen Gebieter, ein Gewand aus grünem Brokat. Bilissi zögert, will ablehnen, sagt, er habe zu viel zu tun, aber schon zieht der Ritter sein Schwert aus der Scheide. Also nimmt Bilissi den Auftrag an und näht das schönste Gewand, das er jemals gemacht hat, viel schöner noch als das erste aus rotem Samt und viel schöner noch als das zweite aus blauer Seide. Der Ritter kommt, nimmt das Gewand und sagt zu Bilissi: ‹Der König wird zufrieden sein. In zwei Tagen wirst du deinen Lohn bekommen.› Aber Bilissi antwortet: ‹Der König soll das Gewand und den Lohn behalten. Ich will nichts. Ich bin zufrieden so, wie es ist.› Verwundert sieht der Ritter den Schneider an: ‹Du irrst dich, Bilissi, der König hat die Macht über Leben und Tod, er möchte dich zum Vater machen und dir die kleine Tochter schenken, die du dir immer gewünscht hast.›
    ‹Aber ich habe schon eine kleine Tochter›, antwortet Bilissi, ‹sie ist meine ganze Freude.›
    Der Ritter sieht den Schneider an und sagt:
    ‹Armer Bilissi, der König hat dir alles genommen, was du hattest, Mutter und Frau, und du warst anscheinend nicht betrübt, aber nun wollte er dir etwas geben, das du nicht hast: eine Tochter, denn die Tochter, deren Vater du zu sein glaubst, ist nur ein Trugbild, und du bist ganz allein. Glaubst du wirklich, dass Träume kostbarer sind als das Leben?›
    Der Ritter wartete Bilissis Antwort nicht ab, der übrigens auch keine Antwort gab. Bilissi glaubte, der Ritter mache sich über ihn lustig. Er ging zurück ins Haus und nahm sein Kind in den Arm, sang ihm ein Lied vor, fütterte es, gab ihm einen Kuss und merkte nicht, dass seine Lippen nur Luft berührten und er niemals, nie im Leben ein Kind hatte.»
    Ich werde nicht wiederholen, was ich zu Beginn dieser langen Geschichte schon erzählt habe: wie es war, als ich im Gasthaus Schloss eintraf, die schweigsame Versammlung aller Männer des Dorfes und ihre Gesichter sah, den Schrecken und das Entsetzen, als ich verstand, was sie getan hatten, wie sie mich dann umringten, bedrängten, mich baten, auf meiner alten Schreibmaschine den Bericht zu schreiben, und ich mich gezwungen sah, einzuwilligen.
    Der Bericht ist fertig, das habe ich schon gesagt. Ich habe also getan, was sie von mir wollten. Ich muss ihn jetzt nur noch zum Bürgermeister bringen. Soll er damit machen, was er will, das ist nicht mehr meine Sache.

39
    Gestern – aber war es wirklich erst gestern? – habe ich Orschwir den Bericht gebracht. Ich habe die Seiten genommen und bin zu ihm gegangen, quer durch das Dorf. Es war noch früh am Tag, und außer dem Zungfrost bin ich keiner Seele begegnet.
    «Zi … Zi … Ziemlich kalt draußen, Brodeck!»
    Ich habe ihn kurz gegrüßt und bin weitergegangen.
    Ich betrat Orschwirs Bauernhof, sah die Knechte und Schweine, aber niemand beachtete mich. Weder Menschen noch Tiere sahen mich an.
    Orschwir saß an seinem großen Tisch, wie bei meinem letzten Besuch am Tag nach dem Ereignis. Aber gestern saß er nicht beim Essen. Er hockte einfach mit verschränkten Händen da und sah nachdenklich aus. Als er mich kommen hörte, blickte er auf und lächelte schwach.
    «Da bist du ja, Brodeck, wie geht es dir? Stell dir vor, ich habe dich erwartet … Ich wusste, dass du heute Morgen kommen würdest.»
    An einem anderen Tag hätte ich ihn vielleicht gefragt, wie er das wissen könne, aber an diesem Morgen war ich seltsam gleichgültig oder nicht interessiert an den vielen Fragen und Antworten. Orschwir und die anderen hatten ihr Spiel mit mir getrieben, und ich hatte genug davon. Die Maus hatte keine Angst mehr vor
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