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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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solche pseudo-juristischen Praktiken das Land führen, wenn ein Gericht bestimmen kann, eine Transaktion, in deren Verlauf tatsächlich Summen in Milliardenhöhe geflossen sind, sei »ohne Gegenzahlung« vonstatten gegangen und damit »Diebstahl«?
    Eine entsprechende Untersuchung im Auftrag des Vorsitzenden
des Verfassungsgerichtshofs der Russischen Föderation könnte dieser künstlichen Kriminalisierung von gewöhnlichen Geschäftsvorgängen, die von geldgierigen Offiziellen für Gaunereien und Erpressungen betrieben wird, ein Ende setzen. Meine diesbezügliche Eingabe bei Gericht verlief im Sande, wie es mit einer Vielzahl solcher Eingaben geschehen ist.
    Natürlich – wenn die Gerichte die Gesetze unverschämterweise nicht anwenden, während der Präsident des Landes nicht die Möglichkeiten hat, die Situation zu ändern, kommt es zu einer Verfassungskrise. Doch so weit sind wir glücklicherweise noch nicht. Die Erfahrungen mit Urteilen der Wirtschaftsgerichte zeigen mir, dass Dmitri Medwedew und seine Mannschaft wissen, wie man die Situation in den Gerichten zum Besseren wenden kann.
    Es wurde viel über Dmitri Medwedews informelle Beschränkungen gesprochen, doch ich halte es für kontraproduktiv, sich auf eine Diskussion über diese Einschätzungen einzulassen: Mein Land hat einen Präsidenten und seine verfassungsmäßige Pflicht ist es, die Rechte und Freiheiten seiner Bürger zu schützen. Der Zustand des Justizsystems gehört in seinen Aufgabenbereich, und dieses hat, wie er immer wieder betont hat, für ihn absolute Priorität.
    Ich bin auch überzeugt davon, dass sich Präsident Medwedew als ein umsichtiger und pragmatischer Politiker über die Einstellung der russischen Intelligenzija und aller nichtgleichgültigen Menschen zur demonstrativen Willkür der Gerichte und der Silowiki im Klaren ist.
    Es muss nicht zu Ausschreitungen kommen, doch es ist extrem irrational und gefährlich für die Machthaber, die Kluft zwischen Worten und Wirklichkeit noch weiter auseinanderklaffen
zu lassen und so zu zeigen, dass es in diesem Land keine andere Möglichkeit mehr gibt, die Bürgerrechte zu schützen, als »auf die Straße zu gehen«. Ohne das Vertrauen der Menschen in die Institutionen des Staates liegt rohe Gewalt als »Verwaltungsmethode« nicht fern.
    Obendrein ist es angesichts solcher »Verwaltungsmethoden« absolut überflüssig, auch nur über die Möglichkeit einer Modernisierung im 21. Jahrhundert zu sprechen. Ein Land, das heute zivilisiert genannt werden will, in dem sich aber gleichzeitig die Regierung über das Gesetz und die Gerichte erhebt, wäre auf dieser Welt nur schwer zu finden – gäbe es Russland nicht. Die Menschen brauchen Fairness, Menschenrechte und Schutz ihrer Würde, das wird sich Bahn brechen. Bis dahin zeichnet sich das System durch Rechtsnihilismus und eine »Anything-goes«-Haltung aus, der Machthunger der Beamten, einschließlich derer aus der Justiz, wächst immer mehr und die letzten Anreize, die Pflicht mit Anstand zu erfüllen, verschwinden nach und nach.
    Für die Bürger bedeutet das, sie müssen sich entweder durch Lösegeld freikaufen oder versuchen, sich zu wehren. Wir dürfen die Rolle der Intelligenzija als Katalysator dieser Bürgerwehr nicht unterschätzen. Wenn ehrbare Leute sich für ihr Land schämen, dann erwacht das Bewusstsein. Wenn es für ein respektables Mitglied der Intelligenzija unanständig wird, dem Staat zu dienen, dann verweist das auf einen grundsätzlichen moralischen Konflikt, eine gefährliche offene Wunde in unserer Gesellschaft.
    So empfinde ich meinen Appell an den Präsidenten als meine Bürgerpflicht. Ich möchte betonen: Ich schlage nicht vor, Druck auf die Gerichte auszuüben und ihnen Vorschriften
zu machen. Im Gegenteil: Ich schlage vor, den offensichtlichen und den unterschwelligen Druck von ihnen zu nehmen, den die erniedrigende Rolle, Handlanger eines repressiven Systems und zugleich Gegenstand von Manipulationen zu sein, mit sich bringt.
    Und was die Beispiele eines demonstrativen Rechtsnihilismus in diesem monströsen Urteil angeht, das jenen wegweisenden Prozess krönte: Sie sind eine direkte Bedrohung für das gesamte Rechtssystem des Landes, auch für seine wirtschaftliche Handlungs- und internationale Konkurrenzfähigkeit. Ich habe dem Präsidenten gegenüber einige Beispiele genannt. Es mag blödsinnig erscheinen, doch das Urteil besagt unter anderem tatsächlich:
– Dass der Abzug von Kapital von einer hundertprozentigen
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